«O Gott«, sagte Deborah.
«Gott hatte nichts damit zu tun. Damals nicht. Und heute auch nicht. Nie. In meinem Leben kommt er nicht vor. In deinem vielleicht, aber nicht in meinem. Und du weißt, dass das ungerecht ist. Es war immer ungerecht. Ich bin so gut wie du, so gut wie jeder andere, und ich verdiene etwas Besseres als das, was ich bekommen habe.«
«Du hast also das Bild genommen? Weißt du, was es ist?«
«Du wirst es nicht glauben, aber ich lese Zeitung«, sagte China.»In Südkalifornien sind sie nicht besonders gut und in Santa Barbara noch schlechter. Aber die großen Storys. O ja, über die großen Storys berichten sie.«
«Aber was wolltest du denn damit anfangen?«
«Keine Ahnung. Es war eigentlich nur eine nachträgliche Zutat. Nicht der Kuchen, nur der Guss. Ich wusste, wo es in seinem Arbeitszimmer lag. Er hat sich gar keine Mühe gegeben, es zu verstecken. Da hab ich's genommen und in Guys Geheimfach versteckt. Ich wollte es mir später holen. Ich wusste, dass es hier gut aufgehoben sein würde.«
«Aber es hätte doch jeder hier hereinkommen und es finden können«, sagte Deborah.»Ich meine, er hätte nur das Schloss aufzubrechen brauchen, wenn er die Zahlenkombination nicht gekannt hätte. Wenn er mit einer Taschenlampe gekommen wäre, hätte er es sofort gesehen und — «
«Wie denn?«
«Man konnte es doch gar nicht übersehen, wenn man hinter diesen Altarstein trat.«
«Da hast du es gefunden?«
«Nicht ich. Paul, Guy Brouards Freund. Der Junge.«
«Ach so«, sagte China.»Bei ihm muss ich mich also bedanken.«
«Wofür?«
«Dass er mir stattdessen das hier hingelegt hat. «China hob eine Hand ins Licht. Sie hielt einen Gegenstand von der Form einer kleinen Ananas. Deborah wollte fragen, was das ist, aber da hatte ihr Verstand schon verarbeitet, was ihre Augen sahen.
Draußen sagte Le Gallez zu St. James:»Ich gebe ihr noch zwei Minuten. Dann ist Schluss.«
St. James versuchte immer noch, damit klarzukommen, dass an diesem Abend China River und nicht ihr Bruder hier erschienen war. Er hatte zwar zu Deborah gesagt, er habe gewusst, dass einer der beiden Rivers der Täter sein müsse — denn das war die einzige vernünftige Erklärung für alles, was geschehen war, vom Ring am Strand bis zur Flasche auf der Wiese — , aber für ihn hatte von Anfang an festgestanden, dass es der Bruder sein würde, wenn es ihm auch an der moralischen Kraft gefehlt hatte, sich dies offen einzugestehen. Es hatte weniger damit zu tun gehabt, dass Mord ein Verbrechen war, das er eher Männern als Frauen zutraute. Es hatte damit zu tun gehabt, dass er auf einer primitiven Ebene, die er am liebsten gar nicht zur Kenntnis genommen hätte, Cherokee River aus dem Weg haben wollte. Das war von dem Moment an so gewesen, als der Amerikaner liebenswürdig und mit gesunden Gliedern in London vor ihrer Tür gestanden und seine Frau Debs genannt hatte.
Er antwortete daher Le Gallez nicht gleich. Er war zu sehr damit beschäftigt, sich irgendwie aus der Konfrontation mit seiner Fehlbar- keit und seiner erbärmlichen persönlichen Schwäche herauszuwin- den.
«Saumarez«, sagte Le Gallez neben ihm.»Halten Sie sich bereit. Die anderen — «
«Sie bringt sie bestimmt heraus«, unterbrach St. James.»Sie sind Freundinnen. China wird auf meine Frau hören. Sie wird sie sicher herausbringen. Es gibt keine Alternative.«
«Ich bin nicht bereit, dieses Risiko auf mich zu nehmen«, sagte Le Gallez.
Die Handgranate sah uralt aus. Selbst von der anderen Seite der Kammer konnte Deborah erkennen, dass das Ding völlig mit Erde verkrustet und von Rost verfärbt war. Es schien aus dem Zweiten Weltkrieg zu stammen. Sie konnte nicht glauben, dass sie wirklich gefährlich war. Wie sollte so ein altes Ding heute noch explodieren?
China schien ihre Gedanken zu lesen.»Aber du weißt es nicht mit Sicherheit, nicht wahr?«, sagte sie.»Und ich auch nicht. Erzähl mir, wie sie es rausgebracht haben, Debs.«
«Was?«
«Alles. Dass ich es war. Das Ganze hier. Warum haben sie dich mitgenommen? Das hätten sie nicht getan, wenn sie nicht Bescheid gewusst hätten.«
«Ich sage dir doch, ich bin Simon gefolgt. Wir saßen beim Abendessen, und da kam die Polizei. Simon sagte mir — «
«Lüg mich nicht an, okay? Sie mussten die Mohnölflasche gefunden haben, sonst hätten sie Cherokee nicht abgeholt. Sie dachten sich, er hätte die anderen Spuren gelegt, um mich in Verdacht zu bringen. Denn warum sollte ich mich selbst in Verdacht bringen wollen, einzig im Vertrauen darauf, dass sie diese Flasche finden würden? Okay, sie haben sie also gefunden. Aber wie ging es weiter?«
«Ich weiß nichts von einer Flasche«, erklärte Deborah.»Ich weiß nichts von Mohnöl.«
«Bitte! Mach mir doch nichts vor. Simon würde dir nie etwas Wichtiges verschweigen. Also los, sag's mir, Debs.«
«Ich habe dir alles gesagt. Ich weiß nicht, was sie wissen. Simon hat mir nichts gesagt. Er wollte nicht.«
«Ah, er hat dir nicht vertraut?«»Anscheinend nicht. «Deborah fühlte sich bei diesem Eingeständnis, als wäre sie von Vater oder Mutter mitten ins Gesicht geschlagen worden. Eine Mohnölflasche. Er hatte ihr nicht vertraut. Sie sagte:»Wir müssen gehen. Sie warten. Sie werden den Dolmen stürmen, wenn wir nicht — «
«Ich nicht«, sagte China.
«Was meinst du?«
«Ich gehe nicht. Ich gehe nicht ins Gefängnis. Ich lasse mich nicht vor Gericht stellen. Ich verschwinde.«
«Du kannst hier nicht weg, China. Du kannst die Insel nicht verlassen. Sie haben wahrscheinlich schon. Du kannst nicht weg.«
«Du hast mich falsch verstanden«, sagte China.»Ich will hier gar nicht weg. Ich verschwinde einfach, das ist was anderes. Du und ich, wir verschwinden zusammen. Freundinnen — wenn man so sagen will — bis zum letzten Atemzug. «Sie legte die Taschenlampe weg und begann, am Stift der alten Granate zu ziehen.»Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie lang es dauert, bis diese Dinger explodieren«, murmelte sie.»Weißt du es?«
«China!«, rief Deborah.»Nein. Das klappt doch nicht. Und wenn doch — «
«Darauf baue ich«, sagte China.
Zu Deborahs Entsetzen gelang es China, den Stift zu lockern. Alt und verrostet, sechzig Jahre lang den Elementen ausgesetzt, hätte er eigentlich unverrückbar festsitzen müssen. Aber so war es nicht. Wie eine Erinnerung — ähnlich den scharfen Bomben, die bis heute gelegentlich in Süd-London gefunden wurden — lag sie in Chinas Hand, während Deborah sich vergeblich ins Gedächtnis zu rufen versuchte, wie viel Zeit ihnen noch blieb — wie viel Zeit ihr noch blieb — , um dem Tod zu entgehen.
China murmelte:»Fünf, vier, drei, zwei.«
Deborah warf sich nach rückwärts und stürzte blind in die Finsternis. Einen Moment lang, der sich zur Unendlichkeit dehnte, geschah nichts. Dann erschütterte eine donnernde Explosion den Dolmen.
Danach kam nichts mehr.
Die Tür wurde aus der Verankerung gerissen und flog wie ein Geschoss ins dichte Gestrüpp. Ein Windstoß folgte ihr, stinkend wie ein Sturm aus der Hölle. Die Zeit schien still zustehen. Alle Geräusche versiegten, aufgesogen vom Entsetzen des Begreifens.
Nach einer Stunde, einer Minute, einer Sekunde brach die Reaktion der ganzen Welt über den Stecknadelkopf herein, der dieser Ort auf der Insel Guernsey war. Rund um St. James begann alles zu toben wie das abfließende Wasser bei einem Dammbruch, das alles mitreißt, was es auf seinem Weg findet. Er wurde sich bewusst, dass er auf dem geschützten Fleckchen platt getretener Vegetation herumgeschoben und gestoßen wurde. Menschen rannten an ihm vorbei, und er hörte wie von einem fernen Planeten das Fluchen eines Mannes und die heiseren Rufe eines anderen. In noch weiterer Ferne schien hoch über ihnen ein dünner Schrei zu schweben, während rundherum Lichter, die Staub und Finsternis durchdringen sollten, hin und her schwangen wie die Gliedmaßen Gehängter.