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Deborah fragte sich, ob sie die Worte finden würde, es ihm zu sagen. Sie hatte den Eindruck, dass bei den Geschwistern keiner dem anderen nachgegeben hatte, aber für begangene Verbrechen und erlittenen Schmerz gab es keinen Ausgleich und würde keinen geben, jetzt schon gar nicht.

Sie sagte:»Sie konnte eurer Mutter nicht verzeihen, nicht wahr? Wie sie zu euch war, als ihr Kinder wart. Dass sie nie eine richtige Mutter war. Die vielen Motels. Wo ihr eure Kleider einkaufen musstet. Nur ein einziges Paar Schuhe. Sie konnte nicht sehen, dass das nur Äußerlichkeiten waren, sonst nichts. Es bedeutete nicht mehr, als es war: ein Motel, Secondhand-Läden, Schuhe, eine Mutter, die nie länger da war, als vielleicht einen Tag oder eine Woche am Stück. Aber für sie hatte es eine ganz andere Bedeutung. Sie sah es als — als ein großes Unrecht, das ihr angetan wurde, und nicht als das, was es ganz einfach war: eine Hand voll Karten, die ihr gegeben wurden und mit denen sie anfangen konnte, was sie wollte. Verstehst du, was ich meine?«

«Und deshalb hat sie getötet. Deshalb wollte sie, dass die Polizei glaubt. «Cherokee konnte dem nicht ins Auge sehen, geschweige denn es aussprechen.»Nein, ich glaube, ich verstehe nicht.«

«Ich denke, sie hat dort Ungerechtigkeit gesehen, wo andere nur das Leben sehen«, erklärte Deborah.»Und sie konnte nicht über diese vermeintliche Ungerechtigkeit hinausdenken: was geschehen war, was ihr angetan worden war.«

«Ja. Gut«, sagte Cherokee.»Das kann ich sehen. Aber was hab ich je.? Nein. Als sie das Öl benutzte, dachte sie nicht daran. Sie wusste nicht. Ihr war nicht klar. «Er schwieg.

«Woher wusstest du, wo du uns in London finden konntest?«, fragte Deborah.

«Sie hatte eure Adresse. Sie sagte, wenn ich bei der Botschaft nicht weiterkäme, könnte ich euch um Hilfe bitten. Wir brauchen sie vielleicht, sagte sie, um der Wahrheit auf den Grund zu kommen.«

Und sie waren der Wahrheit tatsächlich auf den Grund gekommen, dachte Deborah. Nur nicht so, wie China sich das vorgestellt hatte. Sie hatte zweifellos damit gerechnet, dass Simon sich sofort zu ihrem Verteidiger ernennen und die einheimische Polizei solange bedrängen würde, bis diese die Opiatflasche fand, die sie platziert hatte. Sie hatte nie die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass die Polizei ohne fremde Hilfe die Opiatflasche finden würde, während Simon einen völlig anderen Weg einschlagen und die Fakten über das Gemälde aufdecken würde, um dann mit diesem Gemälde als Köder eine Falle zu stellen.

«Sie hat dich also geschickt, uns zu holen«, sagte Deborah zu Cherokee.»Sie wusste, wie es werden würde, wenn wir kämen.«

«Dass ich.«

«Das wollte sie.«

«Mir einen Mord in die Schuhe schieben. «Cherokee sprang auf und ging zum Fenster, dessen Jalousie heruntergelassen war. Er riss an der Schnur.»Weil ich enden sollte. Wie? Wie ihr Vater, oder was? War das alles ein riesiger Rachetrip, weil ihr Vater im Knast ist und meiner nicht? Als könnte ich was dafür, dass ihr Vater ein Verlierer ist! So ein Quatsch. Außerdem war mein Vater auch nicht viel besser. Das war so ein Gutmensch, der dauernd damit beschäftigt war, die Wüstenschildkröte zu retten oder den gelben Salamander oder weiß der Teufel was. Mein Gott! Was spielt das denn für eine Rolle? Was hat es je für eine Rolle gespielt? Ich versteh's einfach nicht.«

«Musst du es denn verstehen?«

«Ja, verdammt noch mal. Sie war meine Schwester!«

Deborah stand vom Bett auf und ging zu ihm. Behutsam nahm sie ihm die Jalousienschnur aus der Hand, zog die Jalousie hoch und ließ das Tageslicht ins Zimmer. Die ferne Dezembersonne schien auf ihre Gesichter.

«Du hast ihre Unschuld an Matthew Whitecomb verkauft«, sagte Deborah.»Als sie das erfuhr, wollte sie dich dafür bezahlen lassen, Cherokee.«

Er antwortete nicht.

«Sie glaubte, Matt liebe sie. Er kam immer wieder zu ihr zurück, ganz gleich, was zwischen ihnen geschah, und sie glaubte, das bedeute das, was es nicht bedeutete. Sie wusste, dass er sie mit anderen Frauen betrog, aber sie glaubte fest, dass er dem allen irgendwann entwachsen und nur noch mit ihr leben wollen würde.«

Cherokee beugte sich vor und drückte die Stirn an die kühle Fensterscheibe.»Er hat sie betrogen, das stimmt«, murmelte er.»Aber er hat nicht wirklich sie betrogen. Er hat eine andere mit ihr betrogen. Was, zum Teufel, hat sie sich denn gedacht? Ein Wochenende im Monat. Zwei, wenn sie großes Glück hatte. Eine Reise nach Mexiko vor fünf Jahren, und eine Kreuzfahrt, als sie einundzwanzig war. Das Arschloch ist verheiratet, Debs. Seit anderthalb Jahren schon, und er hat's ihr nicht gesagt, dieses Schwein. Und sie hat gewartet und gewartet. Ich konnte ihr das doch nicht. Ich wollte nicht derjenige sein. Ich konnte ihr das nicht antun. Ich wollte nicht ihr Gesicht dabei sehen. Darum hab ich ihr erzählt, wie alles überhaupt zustande gekommen ist. Ich hoffte, das würde reichen, um sie so sauer zu machen, dass sie ihn in den Wind schießt.«

«Du meinst.?«Deborah brachte es kaum über sich, den Gedanken zu Ende zu denken, so grauenvoll war er in seinen Konsequenzen.»Du hast sie gar nicht verkauft? Sie glaubte es nur? Für fünfzig Dollar und ein Surfbrett? An Matt? So war es gar nicht?«

Er wandte sich ab und schaute zum Parkplatz vor dem Krankenhaus hinunter, wo ein Taxi vorfuhr. Sie sahen Simon aussteigen. Er sprach kurz mit dem Fahrer, und das Taxi blieb stehen, während er zum Eingang ging.

«Du bist frei«, sagte Cherokee.

Sie gab nicht nach.»Hast du sie nicht an Matt verkauft?«

Er sagte:»Hast du deine Sachen beisammen? Wir können ihm ins Foyer entgegengehen.«

«Cherokee!«, sagte sie.

Er antwortete:»Ach, zum Henker, ich wollte surfen. Ich brauchte ein Brett. Ein geliehenes hat mir nicht gereicht. Ich wollte mein eigenes.«

«O Gott«, sagte Deborah leise.

«Es gab überhaupt keinen Grund, so ein Drama daraus zu machen«, sagte Cherokee.»Matt hat's jedenfalls nicht so gesehen. Und für ein anderes Mädchen wär's auch keine große Sache gewesen. Woher hätte ich wissen sollen, was China daraus machen würde? Was ihrer Meinung nach daraus entstehen musste, wenn sie sich irgendeinem Loser >hingab<? Herrgott, Debs, es war nichts als eine Nummer.«

«Und du warst nichts als ein Zuhälter.«

«So war es nicht. Ich hab genau gemerkt, dass sie ihn mochte. Ich hab mir nichts Böses dabei gedacht. Sie hätte nie von der Geschichte erfahren, wenn sie sich diesem blöden Hund nicht so an den Hals geworfen und ihr Leben für ihn weggeschmissen hätte. Da musste ich es ihr sagen. Sie hat mir gar keine Wahl gelassen. Es war nur zu ihrem Besten.«

«Genau wie vorher das Geschäft mit Matt?«, fragte Deborah.»Ging's da nicht vielleicht um dich, Cherokee? Um das, was du wolltest, und wie du es dir auf Kosten deiner Schwester beschaffen konntest? War es nicht so?«

«Okay. Ja. So war's. Aber ich konnte doch nicht wissen, dass sie an dem Kerl hängen bleiben würde. Ich dachte, sie würde sich wieder lösen und ihr Leben in die Hand nehmen.«

«Genau. Aber sie hat sich nicht gelöst«, entgegnete Deborah.»Weil es schwer ist, sich zu lösen, wenn man die Fakten nicht kennt.«

«Aber sie kannte die verdammten Fakten. Sie wollte sie nur nicht sehen. Herrgott noch mal! Warum konnte sie nie loslassen? Immer hat sie alles in sich reingefressen. Und nie konnte sie sich damit abfinden, dass die Welt eben nicht so ist, wie sie fand, dass sie sein sollte.«

Deborah wusste, dass er zumindest in einer Hinsicht Recht hatte: China hatte immer aufgerechnet und immer das Gefühl gehabt, ihr stehe mehr zu als tatsächlich im Angebot war. Deborah hatte das auch in ihrem letzten Gespräch mit ihr erkannt: Sie hatte zu viel von den Menschen erwartet, vom Leben. Und in diesen Erwartungen hatte der Keim der Selbstzerstörung gelegen.