«Und das Schlimmste ist, dass sie es gar nicht hätte tun müssen, Debs«, sagte Cherokee.»Kein Mensch hat sie zu irgendwas gezwungen. Er hat's versucht, und ich hab die beiden zusammengebracht, ja. Aber sie hat mitgemacht. Sie hat immer weiter mitgemacht. Wo ist da bitte meine Schuld?«
Auf diese Frage hatte Deborah keine Antwort. Zu viele Schuldzuweisungen waren im Lauf der Jahre zwischen Angehörigen der Familie River hin und her geschoben worden.
Es klopfte kurz an der Tür, und dann trat Simon ins Zimmer. Er hatte, so hoffte sie, die Papiere bei sich, die zu ihrer Entlassung aus dem Princess Elizabeth Hospital nötig waren. Er nickte Cherokee zu, richtete seine Frage jedoch an Deborah.
«Bereit zum Heimflug?«
«So bereit wie nie«, sagte sie.
32
Frank Ouseley wartete bis zum 21. Dezember, dem kürzesten Tag des Jahres. Die Sonne würde früh untergehen, und er liebte den Sonnenuntergang. Er fühlte sich wohl in seinen langen Schatten, die ihn vor neugierigen Augen schützen würden. Er wollte bei diesem letz- ten Akt seines persönlichen Dramas nicht beobachtet werden.
Um halb vier nahm der das kleine Paket zur Hand. Die Pappschachtel stand auf dem Fernsehapparat, seit er sie von St. Sampson mit nach Hause gebracht hatte. Die Klappen waren mit Klebeband verschlossen gewesen, aber Frank hatte das Band zuvor abgelöst, um den Inhalt der Schachtel zu überprüfen. Was von seinem Vater geblieben war, war in einem Plastikbeutel verwahrt. Asche zu Asche und Staub zu Staub. Die Farbe der Substanz lag irgendwo zwischen diesen beiden, heller und dunkler zugleich, hier und dort von der scharfen Linie eines Knochensplitters durchzogen.
Er wusste, dass irgendwo im Orient die Leute die Asche der Toten säuberten. Die ganze Familie versammelte sich, und mit Stäbchen hoben sie alle Knochenreste heraus. Er wusste nicht, was sie mit diesen Knochenfragmenten anstellten — wahrscheinlich verwahrten sie sie in Reliquienschreinen, ähnlich wie man früher die Knochen der Märtyrer aufbewahrt hatte. Aber Derartiges hatte Frank mit der Asche seines Vaters nicht vor. Was an Knochensplittern noch in ihr enthalten war, würde dort seinen Platz finden, wo Frank die sterblichen Überreste seines Vaters zu hinterlassen zu gedachte.
Er hatte zuerst an den Stausee gedacht. Der Ort, wo seine Mutter ertrunken war, hätte seinen Vater mühelos aufnehmen können, selbst wenn er die Asche nicht ins Wasser streute. Dann zog er das Stück Land neben der St.-Saviour's-Kirche in Erwägung, wo das Kriegsmuseum hätte stehen sollen. Aber er fand, es wäre ein Sakrileg, seinen Vater an einem Ort zurückzulassen, wo Männer hatten geehrt werden sollen, die so gar nichts mit ihm gemein hatten.
Bedachtsam trug er seinen Vater zu seinem Peugeot hinaus und platzierte ihn auf dem Beifahrersitz, umwickelte ihn fürsorglich mit einem alten Badetuch, das er als Junge benutzt hatte. Ebenso bedachtsam fuhr er aus Talbot Valley hinaus. Die Bäume waren jetzt kahl, nur die Steineichen am sanft ansteigenden Südhang des Tals waren noch belaubt. Aber selbst hier lagen reichlich Blätter auf dem Boden und bildeten einen Teppich in Safran und Umbra unter den dicken Stämmen der Bäume.
Im Talbot Valley, das tief in eine Landschaft sanfter Hügel eingebettet war, schwand das Tageslicht schneller als sonst irgendwo auf der Insel. In den Fenstern vereinzelter kleiner Häuser am Straßenrand brannten bereits die Lichter. Aber als Frank aus dem Tal herauskommend St. Andrew erreichte, veränderte sich die Landschaft und mit ihr die Beleuchtung. Weiden, auf denen die Guernsey-Rinder grasten, wichen landwirtschaftlich genutzten Gebieten und kleinen Dörfern, wo unzählige Gewächshäuser die letzten Strahlen der Sonne einfingen und reflektierten.
Er fuhr nach Osten und hinter dem Princess Elizabeth Hospital auf St. Peter Port zu. Von da war es nicht schwierig, nach Fort George zu gelangen. Obwohl es schon dunkel zu werden begann, war es für den Berufsverkehr noch zu früh, und der Verkehr war ohnehin um diese Jahrszeit erträglich. Die Straßen würden sich erst zu Ostern wieder füllen.
Am Ende der Prince Albert Road musste er kurz warten, um einen Traktor über die Kreuzung rumpeln zu lassen. Danach konnte er weiterfahren, und er passierte das massige steinerne Tor in dem Moment, als die untergehende Sonne die Panoramafenster der Häuser auf dem Gelände des ehemaligen Forts zum Leuchten brachten. Es wurde trotz seines Namens schon lange nicht mehr für militärische Zwecke genutzt, und seine verfallenden Mauern waren im Gegensatz zu denen anderer Festungen auf der Insel — von Doyle bis le Coq — nicht aus Granit und Backstein. Seine Nähe zu St. Peter Port und die prächtige Aussicht auf die Soldier's Bay hatten es zu einem bevorzugten Wohnort reicher Steuerflüchtlinge gemacht. Ihre Luxusvillen standen weit zurückgesetzt auf großen Rasenflächen, neben denen Autos wie Mercedes und Jaguar parkten, hinter hohen Buchsbaumund Eibenhecken oder schmiedeeisernen Gittern mit elektronisch gesteuerten Toren.
Ein Wagen wie der alte Peugeot wäre mit Misstrauen beäugt worden, wäre Frank nicht auf dem kürzesten Weg zum Friedhof gefahren, der, wie die Ironie des Schicksals es wollte, am schönsten Aussichtspunkt der ganzen Gegend gelegen war. Er zog sich über einen Osthang am Südende des alten Militärgeländes. An seinem Eingang stand ein Kriegsdenkmal in Form eines enormen Granitkreuzes mit einem in den Stein eingelagerten Schwert, in dem sich die Kreuzform wiederholte. Vielleicht war die Ironie beabsichtigt, das war durchaus möglich. Auf diesem Friedhof gedieh die Ironie.
Frank parkte gleich unterhalb des Denkmals und überquerte die Straße zum Eingang des Friedhofs. Von dort konnte er die kleineren Inseln Herrn und Jethou erkennen, die sich jenseits einer beschaulich daliegenden Wasserfläche aus dem Dunst hoben. Von dort führte auch ein betonierter Weg — mit Rippen, damit nicht etwa bei feuchter Witterung ein Trauergast ausrutschte — den Hang hinunter zum Gräberfeld, das in mehreren Terrassen angelegt war. Im rechten Winkel zu diesen Terrassen stand eine Befestigungsmauer aus einem einheimischen Stein mit einem bronzenen Flachrelief von Menschen im Profil, vielleicht Bürger oder Soldaten oder Kriegsopfer. Frank konnte es nicht erkennen. Aber eine Inschrift — Das Leben reicht über das Grab hinaus — legte nahe, dass diese Bronzefiguren die Seelen der Toten darstellen sollten, die hier zur Ruhe gebettet waren. Das Relief selbst erwies sich als eine Tür, hinter der man, wenn man sie öffnete, die Namen der Toten lesen konnte.
Er las sie nicht. Er blieb nur stehen, stellte die Pappschachtel mit der Asche seines Vaters zu Boden und öffnete sie, um ihr den Plastikbeutel zu entnehmen.
Er stieg die Stufen zur ersten der Terrassen hinunter. Hier waren die tapferen Männer begraben, die im Ersten Weltkrieg ihr Leben geopfert hatten. Sie lagen unter alten Ulmen in schnurgeraden Reihen aus Ilex und Feuerdorn. Frank ging an ihnen vorüber und weiter abwärts.
Er wusste, an welcher Stelle des Gräberfelds er seine einsame Feier beginnen würde. Die Grabsteine dort schmückten Gräber jüngeren Datums, und einer sah aus wie der andere. Es waren schlichte weiße Steine, die einzige Dekoration war ein Kreuz, dessen Form auch ohne die eingemeißelten Namen zur Identifizierung gereicht hätte.
Zu dieser Gruppe von Gräbern stieg Frank hinunter. Es waren einhundertundelf an der Zahl. Einhundertundelf Mal würde er seine Hand in den Beutel mit der Asche tauchen und einhundertelf Mal würde er das, was von seinem Vater geblieben war, zwischen seinen Fingern hindurch auf die letzten Ruhestätten jener Deutschen hinun- terrieseln lassen, die die Insel Guernsey besetzt hatten und auf ihr gestorben waren.
Er begann mit seinem Werk. Zunächst war es grauenvoll für ihn: seine Finger in direkter Berührung mit den verbrannten Überresten seines Vaters. Als er den ersten Knochensplitter in seiner Hand spürte, schauderte er, und er befürchtete, dass sich ihm der Magen umdrehen würde. Er machte eine Pause und bereitete sich auf den Rest der Aufgabe vor. Er las jeden Namen, jedes Geburts- und jedes Sterbedatum, während er seinen Vater der Gemeinde jener zurückgab, die er zu Kameraden gewählt hatte.