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Nataša erstarrt neben mir. Wir spähen Kopf an Kopf unter der Tischdecke: es gibt Onkel Mikis besten Freund Kamenko zu sehen, er steckt seine Pistole in die Trompete und brüllt, dass sich seine Wangen um zwei wütende Gesichter röter färben und sein Kopf um zwei Köpfe breiter schwillt: was soll das hier? So eine Musik in meinem Dorf! Sind wir hier in Veletovo oder in Istanbul? Sind wir Menschen oder Zigeuner? Unsere Könige und Helden sollt ihr besingen, unsere Schlachten und den serbischen Großstaat! Miki geht morgen in die Waffen und ihr stopft ihm am letzten Abend mit diesem türkischen Zigeunerdreck die Ohren?

Ein Spanferkel zu fangen, ist nicht einfach! Weil Schweine schnell sind und gut in den Kurven liegen. Und weil Schweine mitdenken! überraschte uns mein Vater zu Beginn des Festes mit einer Rede, der längsten, die wir alle je von ihm gehört haben. Das Schwein sieht das gewetzte Messer und rechnet zwei und zwei zusammen. Es sagt sich: in Ordnung, jetzt aber nichts wie weg hier. Hat das Schwein etwa eine Vision? fragte mein Vater und sah in die Runde. Seit Jahren findet es keinen Ausweg aus seinem Gehege, warum sollte es in den nächsten zwanzig Sekunden anders sein? Die Schlächter sind schon zu riechen. Panik und Instinkt wohnen im Schweinekopf Tür an Tür. Im gemeinsamen Garten blüht spärlich das Mitdenken: eine helle Blume für die hellen Momente! So eine Blume pflückt das Schwein, es quiekt und prescht los! Der letzte Schlächter hat das Tor hinter sich noch nicht geschlossen. Der letzte Schlächter ist Bora. Er sieht sich den Tunnel seiner Beine an und fragt: war das etwa das Schwein? Ja, war es, mein Bora, war es, und das Schwein rauscht auch schon über den Hof und raus auf die Wiesen. Wir hinterher, das entfesselte Tier galoppiert über die Wiesen in die Freiheit! Und wisst ihr was? Einem so raffinierten Schwein, einem so schnellen und eleganten Schwein, einem Schwein, das eine Vision hat, gönne ich die Freiheit! Raus aus der kollektiven Stumpfheit und dem Stallmief und ab in die Individualität! rief mein Vater und breitete die Arme aus. Vor dem Schwein der Wald mit den wilden Kollegen, darüber die Berge und hier — unsere Wiesen: ein gesünderes Grün hat nur die Drina, man möchte auf die Knie gehen und Gras fressen. Das Schwein quiekt, und ich sage euch, das ist der reinste Freudenruf! Das Schwein bequiekt seine Revolution! Bora bleibt als Erster stehen, ist er überhaupt hinterhergelaufen? Ich gebe es auch bald auf, nur Miki rennt weiter. Mein kleiner Bruder Miki, sagte Vater und sah zu der Stelle, wo Miki saß. Der wird ja auch Soldat, das merkt man ihm an, das Schwein hat fünfzig, vielleicht sechzig Meter Vorsprung, aber Miki will davon nichts wissen und schreit, dass man es über die Wiesen, in den Wald und hoch in die Berge hört: davon will ich nichts wissen! Gerade noch in List und in Geschwindigkeit unschlagbar, stoppt das Schwein plötzlich. Es dreht seinen Kopf zu meinem kleinen Bruder. Was ist das jetzt? Das Schwein steht da und guckt zu den Bergen, zu Miki, zu den Bergen, zu Miki. Und erst als er es fast eingeholt hat, rast es wieder los, aber nicht mehr zum Wald in die Freiheit, sondern zurück in den Hof. Es knallt zwischen Stall und Scheune und bleibt hinten, wo es enger wird, stecken. Den Rest habt ihr ja gesehen, nur mit der Kabelrolle und dem Traktor konnten wir es entkorken.

Mein Vater hob sein Glas. Mein Vater, der Schlächter, rief mit glasigen Augen: auf meinen Bruder! Alle stießen auf Miki an. Ein Spanferkel zu schlachten ist kein Spaß! rief Vater. Weil Schweine mitdenken, mein Bora hier aber eher nicht. Weil es Bora nicht mit der Kehle, sondern unbedingt mit dem Herzen machen wollte. Und weil er vergessen hat, Petak anzubinden. Dabei kannst du beim Schlachten nur zwei Fehler machen: vergessen, den Hund anzubinden, der durchdreht, wenn er das ganze Blut riecht, oder den Stich daneben setzen, so dass auch das Vieh durchdreht und eine Ewigkeit braucht, bis es krepiert.

Bis der Schmerz so groß wird, dass man ihn mit diesem Leben nicht mehr aushält, stellte ich mir vor.

Onkel Bora hatte beide Fehler begangen.

Fick doch die göttlichen Schweinefüße, Bora, da ist vielleicht die Niere, aber doch nicht das Herz! hatte Onkel Miki seinen Bruder angeschrien und mit dem ganzen Gewicht sein Knie in das Schwein am Boden gedrückt. Das Blut spritzte in alle Richtungen. Schon jagte das Bellen näher. Petak schoss über den Hof, überholte die eigene Zunge. Bora, Mann! schrie Miki, und Petak sprang um die Männer und das blutende Schwein. Er bellte nicht mehr, er schrie, der Sabber quoll durch seine gefletschten Zähne und triefte ihm die Schnauze herab. Miki konnte das Schwein nicht loslassen, weil Bora wieder mit dem Messer ausholte, Petak, aus! Aus! schrie er, mein Vater trat nach dem Hund, der jaulte auf und Bora stach ein zweites Mal zu.

Aus! Aus die Musik! brüllt jetzt dieser Kamenko, obwohl die Dilettanten gar nicht mehr spielen und vor Kamenkos Pistole zurückweichen. Nur der Trompeter rührt sich nicht, die Trompete noch an den Lippen wie bei dem letzten heiteren Ton und der letzte heitere Ton noch in der Luft, nur nicht mehr heiter. Der Pistolenlauf rührt in der Trompete. Kamenkos Arm zittert, der Trompeter zittert, ein kalter Wind geht. Kamenko mit seinem Gebrüll und Petak mit seinem Gebell wetzen den Wind scharf wie Onkel Bora das längste Schlachtmesser für das Schweineherz.

Bell nur, bell, murmelt Kamenko mit starrem Blick und zieht langsam die Pistole aus der Trompete.

Bleib unten, flüstert meine Mutter und schiebt meinen Kopf unter den Tisch. Ich sehe trotzdem alles, ich sehe wie Kamenkos Arm zuckt, es gibt den Schuss, es gibt die Schreie, es gibt das Scheppern der Trompete, als sie auf dem Boden landet. Nataša fällt mir um den Hals, fällt mir in die Arme, beißt nicht, küsst nicht, sie flüstert nur: was war das?

Etwas so Lautes, dass Petak verstummt. Etwas so Erschreckendes, dass meine Mutter mit den Beinen zuckt. Etwas so Wichtiges, dass es die Berge wiederholen — wie ferner Donner klingt der Hall. Mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht hält der Trompeter beide Hände an sein rechtes Ohr, krümmt sich aber, als sei er in den Magen geschlagen worden. Zu nah war die Pistole, warum so nah? möchte ich schreien, Nataša lehnt ihren Kopf an meinen Rücken, umarmt mich. Das muss doch nicht sein, würde ich mich gern wehren, aber gerade jetzt muss das vielleicht doch sein.

Aus! Aus die Musik! Gespielt wird jetzt, was ich befehle! befiehlt Kamenko und tritt nach der Trompete. Hat unser Volk Schlachten gewonnen, damit Zigeuner auf unsere Lieder scheißen?

Nur Ur-Opas Schnarchen stört die Stille nach Kamenkos Frage. Kein Schuss, kein Bellen, keine Befehle dieser Welt können einem solch melodischen Schlaf etwas anhaben. Bevor sich Kamenko erhob und das Lied von der schönen Emina unterbrach, hatte Ur-Opa die erste Strophe gesungen, singend war er auch eingeschlafen, den Kopf auf dem Tisch.

Kamenko stößt den Trompeter gegen die Wand und drückt ihm den Arm unter das Kinn. Das Leder an seinen Stiefeln ist abgescheuert bis zum Metall. Der Trompeter röchelt und Ur-Oma tupft sich die Mundwinkel mit einem Blatt Kopfsalat ab, zieht ihre Augenklappe auf und stellt sich breitbeinig hinter Kamenko. High Noon, Cowboy! ruft sie ihm zu, bewaffnet mit zwei Gabeln. Ich zähle bis drei! Eins, Kamenko, mein gesunder Kamenko, wusstest du, dass ich deinen Großvater Kosta gestillt habe, weil die Milch seiner Mutter zu schwach war? An meiner Milch wurde dein Kosta gesund und groß, für seinen großen Kopf konnte ich nichts. Er spielte mit meinem Slavko und tanzte auf unseren Festen. Und wenn deinem Kosta nach einem Lied war, schnallte er sich selbst das Akkordeon um und griff wie ein Mann in die Tasten, dass die Musiker gar nicht hinterherkamen! Zwei, Kamenko, mein schöner Kamenko, jetzt hast du dir dieses Haar wachsen lassen und diesen Bart, fuchtelst mit dieser Pistole herum und hast dir auf die Mütze ein Wappen genäht, schief, aber das kann man lernen. Weißt du aber, dass dein Großvater Kosta gegen solche Mützen und die doppelköpfigen Adler auf den Mützen in den Krieg zog, dass er zwei Mal an derselben Schulter verwundet wurde und zwei Mal an derselben Wade? Drei, Kamenko, mein schießwütiger Bandit, warum ballerst du in unser Haus? Mit diesen Händen haben wir es in den Boden gekellert und in die Wolken gerissen, und du schießt ihm mitten in den Hals, da, wo seine Seele sitzt!