Kamenko schubst den Trompeter von sich weg und wendet sich Ur-Oma zu. Jaja, das Haus … Sofort erheben sich in seinem Rücken die Väter. Ich zahl dir den Mörtel, aber wer entschädigt mich für mein von diesem Dreckspack beleidigtes Ohr? Kamenko sticht mit der Pistole zwischen Ur-Oma und den in der Ecke ineinander geknäuelten Musikern. Ur-Omas Finger spielen ungeduldig über den Gabeln in ihrem Rock. Gegen Marschall Rooster, den schnellsten Colt von Veletovo, hat Kamenko keine Chance. Miki ist mein Blutsbruder, seine Familie — meine Familie, Respekt und Ehre diesem Blut! sagt Kamenko und dreht seine Unterarme nach außen, weil man bei Blut und Bruder an Handgelenke denken muss. Miki starrt geradeaus und knetet Brot in der Faust. Er hat die Ärmel umgekrempelt, beißt so fest auf das Brot, dass die Muskeln in seinem Unterkiefer spannen. Die Väter huschen auf Kamenko zu, mein Vater der schnellste — noch schneller hebt Kamenko die Pistole, dreht sich um und deutet im Halbkreis für jeden Vater einen Schuss an, bang, bang, bang, sagt er.
Ich halte mir die Ohren zu, die Väter bleiben stehen. Mein Vater in Schrittstellung, die Arme angewinkelt, vorgebeugt, wie vor dem entflohenen Schwein.
Aber, aber, aber! Kamenko dreht eine zweite, langsamere Runde, schwenkt mit der Pistole, als würde er den Kopf schütteln. Jedes» Aber «ist für einen Vater, das vierte gilt Ur-Oma: aber hat mein Großvater seine Schulter und seine Wade nicht seinem Land und seinem Volk geopfert? Während wir hier sitzen, plündern die Ustaschas unser Land, sie vertreiben und schlachten unser Volk! Hat nicht mein Großvater auch gegen die Ustaschas gekämpft? Hat er, Frau Krsmanović, hat er! Ich lasse mir nicht länger von Zigeunern Ustaschalieder und Türkengeheule vorsetzen! Ich will für unseren Miki unsere Musik! Lieder aus der ruhmreichen Zeit, die war und die wieder kommen wird! Kamenko schlägt sich mit der freien Hand gegen die Brust. Und zwar sofort! Nicht zum Reden, zum Tanzen bin ich hier! Wirds bald, gib, gib, gib!
Nicht der dicke Dilettantensänger legt aber los, sondern Ur-Opa wacht auf. Ruckartig hebt er den Kopf vom Tisch und setzt das Lied über die schöne Emina an genau der Stelle fort, an der es Kamenko mit seiner Pistole ausgeschossen hatte. Mit grölender Trauer, als würde die eitle Emina vor Ur-Opas Veranda stehen und seinen Gruß nicht erwidern –
… ja joj nazvah selam, al’ moga mi dina, ne šće ni da čuje lijepa Emina …
— braust Ur-Opas Stimme auf, und Petak steigt heulend ein. Verdutzt sieht Kamenko den weißhaarigen Sänger an. Eminas Haar, zu Zöpfen geflochten, riecht nach Hyazinthen, unter ihrem Arm eine silberne Schüssel, im Lied steht sie unter einem Jasmin, in Veletovo unter einer Pflaume –
… no u srebren ibrik zahitila vode pa po bašti đule zalivati ode …
— breitet Ur-Opa die Arme aus und wirft den Kopf in den Nacken. Kamenko und ich ließen uns vom Lied gleichermaßen ablenken, und als ich wieder zu ihm sehe, haben ihn die Väter zu Fall gebracht, mein Vater kniet auf dem Arm mit der Pistole, bis Kamenko loslässt –
S grana vjetar duhnu pa niz pleći puste rasplete joj one pletenice guste …
— spielt der Wind mit Eminas dichtem Haar. Lauter als Ur-Opas Gesang, Petaks Geheul und Kamenkos schmerzerfüllter Schrei, als ihn die Väter auf den Bauch drehen, Gesicht gegen den Boden, ist jetzt nur noch einer — Onkel Miki. Nicht, weil er die Stimme hebt, sondern weil er seit der Pistole in der Trompete zum ersten Mal überhaupt etwas sagt –
… zamirisa kosa ko zumbuli plavi, a meni se krenu bururet u glavi …
— Eminas Hyazinthenhaar bringt meinen verliebten Ur-Opa völlig durcheinander, und Miki sagt: lasst ihn sofort los!
Mann, Miki, der Typ ist krank! Natašas Vater, ein unrasierter Bauer mit buschigen Augenbrauen, dreht Kamenko den Arm hinter den Rücken. Mein Vater hebt die Pistole mit Zeigfinger und Daumen auf –
… malo ne posrnuh, mojega mi dina, no meni ne dođe lijepa Emina.
— so gut riecht Emina, dass man sich in ihrer Nähe kaum auf den Beinen halten kann.
Ich hab gesagt: loslassen! schreit Miki und beugt sich über seinen Freund. Kamenko, du hättest doch nicht wirklich auf jemanden geschossen?
Aber für Fragen und Antworten ist keine Zeit, die Väter sehen sich an, hoch damit, halten Kamenko gegen die Wand, an seinem Kinn Spucke und Blut. Die Wange an die Fassade gedrückt, japst er: isjagut … lass … isgut!
Ur-Opa braucht keine Musik, die Dilettanten würden sie ihm jetzt auch nicht spielen können, sie sehen sich besorgt das Ohr ihres Trompeters an. Ur-Opa ist aufgestanden, singt den letzten Vers –
… samo me je jednom pogledala mrko, niti haje, alčak, što za njome crko’!
— und tanzt: nur einen düsteren Blick hat Emina für Ur-Opa übrig, sie schert sich um seine Liebe nicht. Ur-Opa tanzt um die Tische und schnappt sich Kamenkos Pistole von meinem Vater. Er tanzt zu den Ställen und schießt so lang in den großen Misthaufen, bis aus den Schüssen Klicke werden. Mit dem Stiefel stößt er die Pistole in den Mist, bis sie verschwunden ist, drückt den Rücken durch und sagt: hachja …
Es gibt für manches keine Erklärung, es gibt das Hachja; es gibt einen wütenden Kamenko auf einer winzigen Veranda in einem winzigen Dorf in den Bergen über der kleinen Stadt Višegrad; es gibt den langhaarigen Kamenko, er hält sich den schmerzenden Arm, man führt ihn von der Veranda weg, wirft seine Tarnjacke auf den Boden; es gibt einen laut atmenden Kamenko, der im Kuhmist nach seiner Pistole wühlt; es gibt den brüllenden Kamenko, jetzt wühl ich in der Scheiße, aber wenn unsere Zeit kommt, werden die Verräter Scheiße fressen! Es gibt einen Platzregen, sommerliche zwei Minuten lang, es gibt den dicken Dilettantensänger, der von Ur-Opa Nikola die doppelte Gage verlangt und sie bekommt, falls, legt Ur-Opa dem Dicken die Hand auf die Wange, falls du meine Hyazinthe morgen früh weckst mit — er flüstert ihm etwas ins Ohr. Der Hyazinthe drückt Ur-Opa einen Kuss unter die Augenklappe. Es gibt die Armee für Onkel Miki, es gab im Frühling einen Streit zwischen Sohn und Vater, zwischen Onkel und Opa, es gab ein Verbot, Miki, das ist nicht die Zeit, um in die Armee zu gehen, keine Diskussionen! Es gab mich im Nebenzimmer und Opa Slavko gibt es nicht mehr, ich erzählte niemandem von diesem Streit, man verpetzt die Familie nicht. Es gab ein Fest, es gab Drohungen, es gab eine Prügelei, es gab einen Schuss, vielleicht muss das immer so sein, wenn in die Armee gegangen wird, man ist noch gar nicht richtig dort, da kommt der Krieg schon hierher. Es gibt die Sorge, Miki könnte dorthin geschickt werden, wo nicht nur in die Misthaufen geschossen wird, es gibt den traurigen Abschied von Miki, es gibt Tränen für Miki und eine Ohrfeige für Miki, du unverschämtes Balg! Die Ohrfeige gibt es, weil der morgige Soldat sagt: Kamenko hat doch Recht, wir dürfen uns nicht alles gefallen lassen, es ist an der Zeit, dass wir den Ustaschas und den Mudschaheddin die Stirn bieten, es gibt dafür die Ohrfeige, es gibt verstohlene Blicke zu meiner Mutter und zu meiner Nena Fatima; es gibt die taubstumme Nena Fatima, die in die Runde sieht, als hätte sie jedes Wort und jede Geste und jeden Schuss verstanden: beschämt und traurig. Es gibt ein Dazugehören und ein Nichtdazugehören, plötzlich ist die Veranda dem Schulhof gleich, auf dem mich Vukoje Wurm gefragt hat: was bist du eigentlich? Die Frage klang nach Ärger, und ich wusste die richtige Antwort nicht. Es gibt Kamenko nicht mehr auf der Veranda, er ist abgezogen, ohne seine Pistole gefunden zu haben, geblieben sind seine Drohungen. Es gibt Kamenkos Pistole, Ur-Opa zieht sie aus seinem Stiefel, alles sauber, sagt er zu Miki, aber ein ganz schöner Mist, was du da faselst; es gibt nämlich auch Scham, es gibt mich, der sich schämt, und zwar nicht weil Onkel Miki jemandem Recht gibt, der sie nicht mehr alle hat, ich schäme mich für mich selbst, weil ich es mutig finde, dass mein Onkel für seinen Freund einsteht. Es gibt aber auch die Scham, weil sich Mutter schämt und Nena Fatima wie einer Katze den Rücken streichelt; über den Tisch sagt Mutter so leise, ich glaube, Miki hört sie gar nicht: Mann, Miki, was soll das denn … Es gibt meinen Vater, der wie so oft nichts sagt, es gibt seine Gesichtsfarbe, gegen die ich Penicillin gespritzt bekäme. Es gibt die Ustaschas, es gibt das Geschichtsbuch, in dem steht, dass die Partisanen diese Ustaschas genauso niedergemacht haben wie auch die Nazis und die Tschetniks und die Mussolinis und überhaupt alle, die etwas gegen Jugoslawien und die Freiheit hatten. Es gibt auch die Mudschaheddin, sie reiten durch die Wüste und ziehen sich Bettlaken an. Es gab Vukoje Wurms Frage auf dem Schulhof, ich hielt sie für eine Drohung und die Erklärung meiner Mutter für einen Witz. Ich bin ein Gemisch. Ich bin ein Halbhalb. Ich bin Jugoslawe — ich zerfalle also. Es gab den Schulhof, der sich wunderte, wie ich so etwas Ungenaues sein konnte, es gab Diskussionen, wessen Blut im Körper stärker ist, das männliche oder das weibliche, es gab mich, der gerne etwas Eindeutigeres gewesen wäre oder etwas Erfundenes, das Vukoje Wurm nicht kannte, oder etwas, das er nicht auslachen konnte, eine deutsche Autobahn, ein Wein trinkendes, fliegendes Pferd, ein Schuss in den Haushals.