Es gibt mich, der später ein Fest ohne Pistolen malen wird. Es gibt Natašas Nähe, es gibt Natašas Blümchenkleid, es gibt Natašas Füße mit schmutzigen Sohlen, es gibt ihre Zöpfe, geflochten wie die von Emina aus Ur-Opas Lied; es gibt diese Kussjägerin Nataša, mein Held, sagt sie zu mir, meinmein Held, und schließt die Augen, komm geküsst, komm geküsst; es gibt mich, so sitze ich da, inmitten der summenden Weltrekordsüße von Natašas Küssen, wie kleine Fliegen summen sie um meinen Kopf, ihre dunkelrote Süße an Stirn, an Wange, an Wange, an Stirn.
Wer gewinnt, wenn Walross pfeift, wonach ein Orchester riecht, ab wann man Nebel nicht mehr schneiden kann und wie eine Geschichte zu einer Abmachung wird
Der ehemals gefürchtete Dreierschütze Milenko Pavlović, den man wegen seines borstigen Schnurrbarts und seiner hängenden Wangen Walross nennt, pfiff nach seinem Karriereende jeden Samstag Spiele der höchsten jugoslawischen Liga und fuhr am nächsten Tag so zurück, dass er zum Mittagessen wieder zu Hause war. Von sechzig Spielen, die er geleitet hat, gewannen die Heimmannschaften fünfundfünfzig.
An diesem Samstag, Ende April 1991, begleitete ihn sein Sohn Zoran zu einem Spiel nach Split, und Zoran schlug vor, gleich nach dem Bingo zurückzufahren. Bingo und Bohneneintopf mit Rippchen nach dem Spiel im teuersten Hotel der Stadt. Eine ordentliche Portion für Walross, denn er hatte ordentlich gepfiffen, und die Zuschauer skandierten nach dem Offensivfoul vier Sekunden vor Abpfiff: Walross! Walross! Walross! und nicht die Namen ihrer Spieler. Der Sieg der Gastgeber fiel knapp aus, nicht zu knapp war Walross’ Bingogewinn.
Ich kann keinen schlafenden Beifahrer gebrauchen, sagte Walross, pennst du mir weg, setz ich dich auf dem Romanija aus. Er leckte sich die Finger ab, mit denen er die Rippchen gehalten hatte. Bis zum Knochen ordentlich abgenagt hatte der ordentliche Schiedsrichter das Fleisch. Die Rechnung ging aufs Haus. Der Birnenkuchen ging aufs Haus. Die Birnenschnäpse gingen aufs Haus. Walross kippte seinen dritten runter und stieß beim vierten mit dem Hotelbesitzer auf den Sieg der Jugoplastika an. Walross! Walross! Walross! riefen Kellner und Ehrengäste.
Walross! Ein Lied für Walross! lallte der Hotelier, ein feister Ungar namens Agoston Szabolcs, und lockerte die Krawatte. Aus der Küche schlängelte eine schnelle Akkordeonmelodie in die Stube. Der Koch trat die Tür auf und schaukelte durch den Saal. Hier bin ich das Orchester! Um seinen grandiosen Bauch riss er das rote Akkordeon auseinander, an der Hüfte baumelte eine fettige Fleischgabel, Schweiß troff ihm ins Lächeln. Die kurzen Finger rutschten über die Tasten, das Vorspiel roch nach Rind, nach Knoblauch, nach Metall. Sofort bewohnten zwanzig satte Männer das Lied, zwanzig siegreiche Stimmen, mit jeder Strophe und jedem Klaren kaputter, gewonnener, verliebter. Der Koch grinste wie unter Qualen. Der Koch pfiff. Der Koch tropfte. Der Koch stellte seinen Fuß wie etwas Totes auf dem Stuhl ab, um das Akkordeon zu stützen. Joooj! litt der Koch und rief den Schnaps zu sich. Aus der Flasche schüttete er sich den Schnaps in die Kehle, ohne dass das Lied stockte, als er die Hand von den Tasten hob, ich bin das Orchester! gurgelte er, ich!
Die Kellner nahmen Bestellungen auf, bestellten immer das Doppelte für sich. Sie drehten die Tabletts auf den Fingerkuppen, umarmten einander und schunkelten zu den Liedern, Matrosen in Schwarz.
Der achte, rief Walross und warf das siebte Glas über die Schulter, ist für meinen Kleinen, bloß darf er noch nicht, ich verwalte das so lange.
Klein ist kleiner als ich, wehrte sich Zoran und trank die letzten Tropfen aus jedem Glas, ohne das Gesicht zu verziehen. Agoston Szabolcs tat es ihm gleich, nur nahm er volle Gläser, schlief nach dem zehnten ein, den Ellenbogen im übervollen Aschenbecher. Alle Maul halten! schnauzte der Koch und das Akkordeon flüsterte dem Hotelier einen rührseligen Csárdás ins Ohr. Die Männer erhoben und suchten sich, schlossen den Kreis. Arm in Arm traten sie auf. Gläser trafen die Wand und blieben ganz, da erhob sich auch Agoston Szabolcs zum Tanz, noch bevor er aufwachte. Auch Milenko stieg in den Reigen, legte den Kopf in den Nacken, mehr Wolf als Walross.
Die ersten hundert Kilometer blieb Zoran wach — beim Gesang seines Vaters war an Schlaf nicht zu denken. Zwei Stunden später trank er den ersten Thermoskannenkaffee und kurz vor Sarajevo war ihm nach der dritten Packung Traubenzucker ein wenig schlecht. Als ihn sein Vater auf dem Romanija weckte, guck mal, Zoran, Nebel wie Zement! rieb er sich die Augen und rief sofort: gar nicht habe ich geschlafen!
Jaja, nur kurz die Augen zugemacht, ganz so wie ich. Wir müssen uns beide dringend die Augen vertreten, das nächste Mal rettet uns die Wiese vielleicht nicht mehr. Das Auto stand ein gutes Stück feldein, rechter Hand ging es steil bergab, wohin, sah man nicht. Fünf Uhr morgens, Nebel wie Zement, Zoran!
Auf dem Romanija war es Nacht, Morgen, kalt und Frühling in einem. Vater und Sohn stiegen aus, der große Mann streckte sich und kratzte sich den Schnurrbart. Zoran gähnte, hob einen Stein auf und warf ihn in den Nebel. Auf den Gräsern und den Schuhen lag der Tau. Sie pinkelten links und rechts an einer Tanne vorbei, bergab durch Nebelzement, pfiffen jeder für sich, jeder fröhlich. Walross lehnte sich an die warme Motorhaube, eine Hand in der Hosentasche, in der anderen die Zigarette. Zoran pflückte Löwenzahn und Gänseblümchen und etwas Hellblaues, das er nicht kannte, und drückte sie zu einem Strauß. Er packte die restlichen Rippchen aus und wickelte die Stängel in die Alu-Folie. Er hielt von Blumen nicht viel, und genauso sah der Strauß auch aus, scheiße, lobte ihn sein Vater, aber Blumen sind Blumen, deine Mutter wird sich freuen.
Sie freute sich nicht. Die Haustür stand offen, offen trug Zorans Mutter ihr Haar. Sie freute sich nicht, sie war nackt, aber warum eigentlich Nebelzement? fragte sich Zoran. Niemals war etwas so weich gewesen wie der Nebel auf dem Romanija, an dem Sonntag, als Zoran und sein Vater Milenko, genannt Walross, schon am Morgen das Haus betraten, sechs Stunden früher als geplant. Die Tür stand offen, offen stand auch der Reißverschluss von Bogoljub Balvan, dem Trafikanten.