Und jetzt? frage ich Zoran, obwohl ich weiß, was jetzt ist: Zorans Mutter war am gleichen Tag, an dem auch sein Vater die Stadt verlassen hatte, mit Bogoljub nach Sarajevo durchgebrannt. Sie ließ ihm über seine Tante Desa etwas Geld zukommen, Desa aber verwaltete das Geld genauso, wie Zorans Vater die für Zoran gedachten Birnenschnäpse in Split. Zoran schlief auf dem Dachboden seiner Tante und verdrosch jeden Tag nach dem Aufstehen und vor dem Schlafengehen seine beiden Cousins. Zoran verprügelt nur den, der es wirklich verdient. Seine beiden Cousins, weil sie Großmäuler sind oder Edin, weil er Ballett tanzt, aber dafür entschuldigte er sich, als er erfuhr, dass Edin keinen Vater hat. Das Haus seiner Eltern hatte Desa an Saisonarbeiter vom Staudamm vermietet. Sie war geschieden und verbrachte viel Zeit bei den müden Männern vom Staudamm. Immer loben die Männer sie, Onkel Miki sagt: Desa ist unsere Marilyn Monroe.
Jetzt, sagt Zoran, steht auf und zerstreut meine Gedanken an seine immer nach Honig riechende Tante, jetzt ist es so, dass ich Gänseblümchen und Löwenzahn — Scheißblumen sind Scheißblumen — nicht ausstehen kann. Meiner Mutter war der Rosendreck lieber. Blumen sind nicht einfach Blumen.
Das stimmt, das kann ich bestätigen, Danijela mit dem sehr langen Haar hat bei meinen Gänseblümchen einen Furcht erregenden Lachanfall bekommen.
Zoran schnappt sich den Besen und kehrt die Schalen vor den Stufen zusammen. Ein Schlaks wie sein Vater, lange Arme, lange Beine, gedrungener Oberkörper. Das Haar über den Ohren ungekämmt, dicht. Die abgetragene Jeansjacke seines Vaters zieht er selbst bei größter Hitze nicht aus. Das Reisig kratzt über den Asphalt, das einzige Geräusch in der nachmittäglichen Stille.
Mutter und ich haben telefoniert, sagt Zoran und holt mit dem Besen aus. Sie sagt, sie kann nicht zurück. Wegen der Leute. Was die Stadt redet. Dass das alles nicht stimmt. Ich soll zu ihr nach Sarajevo ziehen.
Und was sagst du?
Zoran zieht Schleim in den Hals, mit einem harten, kratzenden Geräusch, und spuckt auf den Boden. Ich sage: gut, Mutter, ganz wie du willst, aber das, was ich dir zu sagen hätte, das ist schlimmer als das, was die Leute reden. Deswegen ziehe ich niemals zu dir und deswegen ziehst du niemals zu mir — weil ich es dir jeden Tag bis ans Ende des Lebens sagen würde und ich jeden Tag sehen müsste, wie sich dein Hühnchenschädel bewegt, wenn du mir antwortest.
Die Ladenglocke bimmelt, Meister Stankovskis Glatze erscheint im Türspalt. Zoran — Pause, nicht Ferien!
Komme, sagt der und lehnt den Besen an das Geländer. Das Klacken der Hufe ist zu hören. Musa Hasanagić führt Karfiol, seine Stute, an den Zügeln über den Platz. Zoran und er begrüßen sich mit Handschlag. Musa nimmt seinen Zylinderhut ab, und Zoran fährt der Stute über den weißen Fleck auf der Stirn.
Viele Geschichten kennt Zoran nicht. Das kommt daher, weil ihm im eigenen Leben etwas so Unglaubliches passiert ist, dass er nichts mehr erfinden muss. Wie sich sein betrogener Vater an Bogoljub Balvan rächt — davon kann er immer wieder erzählen. Manchmal dauert die Erzählung keine zwei Minuten — Tetris wird nicht gespielt und nichts in den Fluss geworfen, Zorans Vater poliert den ganzen Tag seine Flinte und weint auf die Flinte und poliert das dann weg und weint und poliert. Sie endet so, dass Zoran ihn auf den Knien bittet, den Lauf wieder aus dem Mund zu nehmen.
Zoran und Musa verabschieden sich ernst, auch mir gibt Zoran die Hand, nickt und verschwindet im Inneren des Ladens. Ich mache mich auf den Weg nach Hause. Ein Reisebus biegt hinter mir um die Kurve, der Fahrer trägt eine Mütze. Der Schnurrbart, die langen Arme, die langen Finger am Lenkrad, das dunkle Haar, das ihm unter der Mütze hervorlugt und über den Ohren liegt. Genau wie seinem Sohn.
Gibt es irgendwo Geschichten, bin ich sofort irgendwo.
Wie gelangte aber der einst gefürchtete Dreierschütze und nicht so gute Flintenschütze, Milenko Pavlović, genannt Walross, hinter das Lenkrad? Und sollte ich nicht sofort zum Laden zurückgehen und Zoran berichten, dass sein Vater wieder da ist, dieses Mal nicht zu früh, eher ein Jahr zu spät?
Wann etwas ein Ereignis ist, wann ein Erlebnis, wie viele Tode Genosse Tito hat und wie der ehemals gefeierte Dreierschütze hinter das Lenkrad eines Centrotrans-Busses gelangt
Ein Ereignis ist es, wenn Herr Fazlagić in unser Klassenzimmer stürmt. Der pünktliche Herr Fazlagić rast mit einem triefend nassen Schwamm an die Tafel, als sei er nicht Lehrer, sondern Feuerwehrmann, der eine brennende Tafel löschen will. Da wir täglich Serbokroatisch haben, rückt Herr Fazlagić jeden Tag aus, um die Tafel zu löschen und mit tausend Beispielsätzen unsere Rechtschreibung zu retten. Herr Fazlagić ist vielleicht ein guter Feuerwehrlehrer, genau weiß man das nicht, denn bei den meisten von uns bleiben seine Rettungsversuche wirkungslos. Wir werden, allen Herren Fazlagićs dieser Welt zum Trotz, ć und č niemals unterscheiden können, und die Tafel hat auch nie gebrannt.
Edin und ich haben es mehrmals versucht. Erst mit Matheheften, dann mit einer halb vollen Cola-Flasche Benzin, die Edin aus der Garage seiner Mutter mitgebracht hatte. Ich blieb skeptisch: so eine Tafel ist gar nicht aus Holz, und wie viel Benzin brauchst du, um eine Messingtafel anzuzünden? Eine Tankstelle könntest du auf Messing kippen, trotzdem brennt Messing nicht, sagte ich, und wiederholte das Wort Messing so oft, bis Edin die Benzincola ins Licht hielt, die Augen zusammenkniff und, stimmt ja eigentlich, nickte. Mit Messing kannst du Glas schneiden und Glas brennt auch nicht, warum also sollte Messing brennen, lass uns das Zeug an Čika Spok verkaufen oder einen Frosch anzünden.
Benzin ist Alkohol und Čika Spok ein Säufer, wie ihn jede Stadt braucht. Mit Daumen am Ohr und dem kleinen Finger an den Lippen telefoniert Čika Spok bis tief in die Nacht mit den Sternen; er schmeichelt dem großen Bären und verspricht: eines Tages hab ich eine Waffe, die ist so stolz, damit erleg ich dich und schneider mir eine Sternbärenmütze.
Vielleicht sind das nicht ganz genau seine Worte, ich wünsche mir aber jedes Mal, wenn mich seine Schreie wecken, er würde den Bär sachlich über sein Schicksal aufklären und ihn nicht beschimpfen und verdächtigen: meine Sterne sind das, die du trägst, diebisches Vieh! Oder Nacht und Nacht mit Flaschen um sich werfen und Flüche loslassen, die von der Bärenmutter und von Abhäutung handelten. Nicht in seine Betten, die Parkbänke, kotzen, nicht in seiner Kotze schlafen.
Edin und ich entschieden uns für den Frosch und gegen Čika Spok, weil der so friedlich schlief, im Sitzen an die Moscheemauer gelehnt. Es dauerte zwei Stunden, bis wir einen fangen konnten. Ich zündete das Streichholz an, dann ein zweites. Der Frosch muss sich in diesem Augenblick so einiges über sein derzeitiges Leben gedacht haben und über die ganze blöde Situation, in die er geraten war. Anstatt am Flussufer die Backen aufzublasen und nach Mücken mit der Zunge zu peitschen, hockte er in einem Pappkarton und wurde mit Benzin geduscht, während über ihm zwei dunkelhaarige Köpfe brennende Holzstäbchen auf seinen Rücken warfen und auf eine spektakuläre Explosion warteten. Das vierte und das fünfte Streichholz erloschen ebenfalls, und das Benzin roch nach vergorenem Apfelsaft.
Wenn man Streichhölzer auf einen reglos über sein Schicksal nachdenkenden Frosch wirft, tut einem diese eingesperrte Fröschigkeit sehr schnell sehr Leid, aber man versucht es trotzdem mit noch einem Streichholz. Erst dann gibt man dem Frosch seinen Teich zurück, wirft die geleerte Colaflasche hinterher und zündet den Karton an.
Ein Ereignis war es auch, als am ersten Tag des Schulj ahres unser Serbokroatischlehrer auf die Leiter stieg und das Bild des Genossen Tito von der Wand nahm. Er stemmte es gegen den Bauch und sagte mit feierlicher Stimme zu Titos großem Gesicht, zu Titos Schulterpolstern und Titos Offiziersstreifen: ab heute nennt ihr mich Herr Fazlagić und nicht mehr Genosse Lehrer, ist das klar?