Über die praktische Umsetzung marxistischer Ideologie, den Selbstverwaltungssozialismus, Titos Außenpolitik oder wie man einen Fisch am besten ausnimmt, hatte ich immer am liebsten mit Opa gesprochen. Mit meinem Vater waren solche Unterhaltungen sehr schwierig. Er neigte dazu — wenn er überhaupt Lust hatte, mit mir zu reden —, sich alles Mögliche auszudenken, um sich seine Inkompetenz nicht anmerken zu lassen. Anstatt über Jugoslawien, sprach er von einem namenlosen Königreich, in dem es Wörter für Dinge gibt, die nicht existieren, und Dinge gibt, für die keine Wörter existieren dürfen. Wenn jemand ein Wort für etwas erfindet, das sonst namenlos in der Welt herumsteht, wird er zur Strafe auf eine Insel geschifft, die ebenfalls keinen richtigen Namen trägt und deswegen» die nackte Insel «genannt wird.
Gute Geschichten erzählen zu können wird vererbt, aber überspringt schon mal eine Generation.
In unseren Schulbüchern lebte Tito am längsten. Geschichte, Serbokroatisch, nicht einmal Mathe kam ohne ihn aus. Die Entfernung von Jajce nach Bihać beträgt 160 Kilometer. Ein Yugo fährt mit einer Geschwindigkeit von 80 km/h von Jajce nach Bihać. Zur gleichen Zeit läuft unser Josip Broz Tito mit einer gleich bleibenden Geschwindigkeit von 10 km/h von Bihać nach Jajce. Bei welchem Kilometer treffen sie sich?
Um meine völlige Ahnungslosigkeit in dieser Sache zu übertünchen, empörte ich mich, es sei wohl ganz klar, dass ein Yugo und ein Tito gar nicht auf der gleichen Straße sein können, da doch alles abgesperrt wäre, wenn unser Präsident einen Spaziergang gemacht hätte. Eine Sicherheitsvorkehrung, fügte ich hinzu, die ich sehr begrüße.
Aber Mathelehrer sind da unerbittlich.
Über Titos Leben im Geschichtsbuch ärgerte sich einmal ein neuer Lehrer so laut, dass man ihn aus dem Zimmer des Schuldirektors auf dem Flur hören konnte. Ich bin ein Historiker! schrie er, kein Märchenonkel!
Ich erzählte Opa Slavko vom Historiker, und am nächsten Tag holte Opa mich von der Schule ab, mit Brille, mit Mantel, mit Gehstock, den er gar nicht brauchte, mit Hut und seinen unzähligen Parteiorden. Zuvor hatte man auf dem Flur die Stimme meines Opas gehört, die des Historikers nicht.
Auch in den Fernsehsendungen lebte Tito sein drittes Leben. Die Partisanenfilme wurden so oft gezeigt, dass ich bei einigen mitsprechen konnte. Mein Lieblingsfilm heißt» Schlacht an der Neretva«. Die Neretva ist nur fast so grün wie die Drina, und ihre schönste Brücke in Mostar hat zehn Bögen weniger als unsere Brücke. In Mostar war ich letztes Jahr mit meiner Klasse. Männer sprangen von der ziemlich hohen Brücke in die Neretva und alle klatschten. In dem Film springt ein ganzes Heer von Typhuskranken in den Fluss. Ihr Anführer ruft: mir nach, Typhuskranke, übers Wasser in die Freiheit! Dann ertrinkt er. Ein anderer Spruch aus der» Schlacht«: Unser Volk singt auch, wenn es getötet wird. Hätte Marx diesen Film gesehen, wäre ihm vielleicht ein trauriger Satz eingefallen.
Ich wasche mir die Hände vor dem Essen, damit ich keinen Typhus bekomme.
In meinem Zweitlieblingsfilm jagen Bergmänner mit einer unglaublichen Menge an Dynamitstangen eine unglaubliche Menge Nazis in die Luft. Kumpel bleiben in der Mine wie Matrosen auf dem Grund der See, sagt einer der Bergleute. Ein deutscher Soldat sieht in die Ferne und sagt: und doch sind wir die Schuldigen. Weil wir naiv waren und schwach. Die Schwachen gehören nicht in die Geschichte. Nur eines tut mir Leid: dass ich als Soldat sterben werde und nicht als Bergmann.
Tito lebte auch auf Gedenkfeiern, Kundgebungsfeiern und Feiertagsfeiern. Auf düsteren Treffen älterer Männer mit ungebügelten Hemden und Frauen mit gefärbten Dauerwellen in verrauchten Hinterzimmern, wo ich in Begleitung meiner Mutter endlose Stunden verbrachte. Man aß Schinken und murrte, die Zeiten früher, die Zeiten früher, ja, das waren Zeiten früher. Sogar Opa Slavko wurde dort zänkisch, beschwerte sich über dies und jenes und kam mir, so nörgelnd, so schlecht gelaunt, zehn Jahre grauer vor als sonst. Ich hustete und hatte am nächsten Morgen rote Augen.
Letztes Jahr im Sommer, zwei Wochen nach Opas Tod, weigerte ich mich zum ersten Mal, mit meiner Mutter auf ein Treffen irgendwelcher Ehemaligen im Keller der Stadtbibliothek zu gehen. Opa muss auch nicht mehr hin! Ich blieb stur, und Mutter sah nicht enttäuscht, sondern erschrocken aus. Sie zog sich an, malte sich vor dem Schlafzimmerspiegel die Fingernägel rot und schloss dann die Schlafzimmertür. Als sie mich zum Abschied umarmte, roch sie nach Wein. Ich zeichnete unsere Fahne mit dem fünfzackigen Stern und musste die ganze Zeit an Mutters rote Nägel denken. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Ich klopfte so lange an die Ateliertür, bis mein Vater zugab, dass er zu Hause war und versprach, Mutter mit mir abzuholen.
Im Bibliothekskeller hing die jugoslawische Fahne an einem Heizungsrohr, ein Mann mit Brille auf der Nasenspitze las laut aus einem Riesenwälzer. Das Grammofon schaltete trotzdem niemand aus. In den Käsewürfeln auf den Tellern steckten Zahnstocher, sie trugen kleine, selbstgemachte Fähnchen mit Titos Porträt. Meine Mutter tippelte mit der Hand zum Rhythmus der Musik. Sie war die einzige Frau im Raum und die einzige Person unter sechzig. Auf dem Weg von unserem Haus hierher hatte sie sich eine neue Frisur gemacht. Vater blieb am Eingang stehen und spielte mit dem Autoschlüssel. Als sie uns bemerkte, stand Mama langsam auf und griff nach ihrer Tasche. Sie verabschiedete sich von niemandem. Niemand verabschiedete sich von ihr. Jemand hustete, ein anderer stand auf und drehte die Platte um. Das war Mutters letztes Treffen. Ich konnte nicht erkennen, ob sie besonders glücklich oder besonders traurig darüber war, sie hörte einfach auf, hinzugehen, wie ich vielleicht irgendwann aufhören werde, zu wachsen. Und sie hatte auch keine neue Frisur im Bibliothekskeller. Im rauchbewölkten Licht sah meine Mutter einfach nur ganz anders aus.
Und geblieben waren auch Bilder über Bilder von Tito — in Büros, in Schaufenstern, in Wohnzimmern neben den Familienporträts, in den Schulen. Tito auf einer Yacht, Tito hinter dem Rednerpult, Tito mit einem Mädchen, das ihm Blumen überreicht. Tito Hand in Hand mit E. T. gab es als Puzzle. Als man dann die Bilder aus den Klassenräumen entfernte, starb Tito zum dritten Mal. Genosse Jelenić, genannt Fizo, blieb ein Genosse und ließ als einziger Lehrer an diesem ersten Schultag Titos Porträt an der Wand — Admiralsuniform und Schäferhund. Fizo postierte sich grußlos hinter sein Pult, setzte die Brille auf und trug etwas in unser Klassenbuch ein. Jeder legt ein Arbeitsheft und ein Formelheft an, sagte der strengste Lehrer der Schule, ohne aufzusehen, das wird ein schwieriges Jahr.