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Herr Fazlagić, Nicht-mehr-Genosse-Lehrer, entfernte damals nicht nur Titos stählerne Stirn im vergoldeten Rahmen, sondern sogar die rote Fahne aus der Glasvitrine, die bei jeder Schulparade am Kopf des Schülerzuges getragen wurde. Nach meiner Frage, ob nicht wir Pioniere Tito sauber machen könnten, begann er mit großem Ernst eine lange, ernste Rede: das ist eine ernste Angelegenheit, Aleksandar Krsmanović, und deine Ironie höchst unpassend! Ernsthafte Veränderungen im System gehen vor. Die neue Titulatur und die Beseitigung der Überbleibsel des Personenkultes sind ernst zu nehmende Bestandteile des Demokratisierungsprozesses! Die Lehrerlippen bewegten sich weiter, der Lehrermund reihte einen langen Satz an den anderen. Das Bild setzte Herr Fazlagić mehrmals ab und schüttelte seine Arme durch. Anstatt es aber stehen zu lassen, hob er es jedes Mal wieder auf und hielt es, während er weitersprach, bis zur Pause in den Händen.

Um zu zeigen, dass ich den Ernst der Angelegenheit, des Systems, der Titulatur und des Personenkultes begriffen hatte, kam ich am nächsten Tag in meiner viel zu kleinen, aber immer noch, wie ich fand, schmucken, dunkelblauen Pionieruniform zur Schule. Ich setzte mich beim Herrn Fazlagić in die erste Reihe, sozialistisch aufrecht, wie es Opa immer gefordert hatte. Sogar meine Fingernägel hatte ich mir sauber gepult, ich spreizte die Finger vor mir auf dem Tisch, wie es früher Pflicht gewesen war, als es noch den Hygiene-Aufpasser als Klassenfunktionär gegeben hatte. Bei der ersten Frage, die Herr Fazlagić der Klasse stellte, sprang ich auf und rief: betrachten wir nun das Residuum der Arbeitsprodukte. Es ist nichts von ihnen übrig geblieben als dieselbe gespenstische Gegenständlichkeit, eine bloße Gallerte unterschiedsloser menschlicher Arbeit, das heißt der Verausgabung menschlicher Arbeitskraft ohne Rücksicht auf die Form ihrer Verausgabung.

Drei Stunden Nachsitzen. Drei Lehrer passten auf mich auf, ihre grimmigen Mienen hielten Vorträge über den gesellschaftlich-politischen Ideologiewechsel beziehungsweise Umbruch, drohten mir: wirst du nicht vernünftig, bleibst du jeden Tag nach der Schule hier.

Schüler bleiben in der Schule wie Matrosen auf dem Grund der See, sagte ich und malte mir zwei rote Filzstiftstreifen diagonal über die Wangen, nur eins tut mir Leid: dass ich als Schüler sterben werde und nicht als Bergmann.

Es gab daraufhin zwar ein erneutes Wortgewitter, dann aber durfte ich nach Hause, weil auch Lehrer ein Privatleben haben. Ich nahm mir vor, die Bedeutung der Ausdrücke Provokation, familiäre Gehirnwäsche und politischer Ideologiewechsel beziehungsweise Umbruch genauer unter die Lupe zu nehmen. Klar geworden ist mir die Bedeutung von Ironie. Ironie ist eine Frage, auf die man keine Antwort, sondern Ärger bekommt.

Edin dreht sich zu mir und sagt: Jasnas Hemd. Edin, der Chefgenosse der Biologie, erklärt mir, was Jasnas Hemd ausbeult. Freitag, dritte Stunde, Herr Fazlagić löscht so gehetzt die Tafel, dass ihm das Wasser aus dem Schwamm in den Ärmel läuft. Schnell sind Edin und ich uns einig — ausbeulen ist kein gutes Wort für Jasnas Hemd. Ausbeulen ist falsch, weil ausbeulen nach Autotüren klingt, das aber, was unter Jasnas Hemd von einem Tag auf den anderen geschehen war, hatte mit einer Autoreparatur nichts zu tun. Mit verbogenen Achsen hat Jasnas rotes Hemd auch nichts zu tun. Warum Edin und ich uns in ihrer Nähe so benehmen, als sei sie gleichzeitig die wichtigste und die unwichtigste Sache auf der Welt, ist Edin etwas klarer als mir. Brotteig, einen Hund streicheln, einen Radiosender suchen, so sei das Untechnische unter Jasnas Hemd am besten zu bedienen, erklärt mir Edin. Sanft müsse man sein und: präzise. Du musst das Anfassen perfekt beherrschen, sonst rennen die dir weg! flüstert der Chefgenosse der Biologie und sieht verträumt zu Jasna hinüber. Einmal anfassen, seufzt er, dann kann ich von mir aus auch verrecken.

Das Wort» präzise «habe ich aus Edins Mund noch nie gehört, und als seine Stimme bei» perfekt «etwas lauter wird, schleudert Herr Fazlagić seinen Schlüsselbund mit voller Wucht auf das Lehrerpult. Stille. Schlagartig. Präzise.

Der Schlüssel ist ein Erlebnis. Für Edin, für mich, auch für Jasna. Denn Edin, ich und Jasna haben ja persönlich damit zu tun, dass Herr Fazlagić so gereizt ist. Im Gereiztsein ist der ehemalige Genosse Lehrer sowieso unschlagbar. Mindestens einmal pro Woche prophezeit er mit bebender Stimme: ihr bringt mich noch nach Sokolac! Mit» ihr «sind wir gemeint, die er zum Beispiel bei dem Versuch erwischt, die Tafel anzuzünden, oder wir, die kollektiv den ersten Schulaufsatz des Jahres mit kyrillischen Buchstaben schrieben, obwohl es nach Titos drittem Tod ausdrücklich geheißen hatte: es wird nicht mehr kyrillisch geschrieben. Und auf Sokolac gibt es ein Irrenhaus. Da kommen Adolf Hitlers hin und Leute, die sich für einen Stuhl halten. Auch Herr Fazlagić schafft es dorthin. Und wenn seine Nerven nah am Sokolac sind, haut er gern mit Dingen auf das Pult. Die flache Hand, das Klassenbuch, die Landkarte der Türkei, die Herr Fazlagić seit Neuestem als Vorzeigeland für dies und jenes lobt. Heute ist es sein vierzehn Kilo schwerer Schlüsselbund, mit dem wahrscheinlich ganz Jugoslawien und die halbe Türkei geöffnet werden könnten. In den noch gar nicht verhallten Knall brüllt er: perfekt? Was ist denn so perfekt, Edin, und was willst du anfassen? Deine Noten jedenfalls sind genau das Gegenteil von perfekt und anfassen solltest du mal deine Bücher!

Der Lärm und das Geschrei erschrecken Edin; er springt vom Stuhl, dreht eine Pirouette, streckt die Brust vor, breitet die Arme aus und ruft: Ich will nichts anfassen! Und mit» perfekt «war unser Umzug gemeint, meine Mutter und ich ziehen weg. Aleksandar will helfen, da habe ich perfekt gesagt …

Edin zieht gar nicht weg, aber der Umzug ist eine gute Ausrede, denn Herr Fazlagić fragt nicht weiter, sagt nur noch: ihr könnt das auch in der Pause besprechen.

Diese ersten warmen Wochen des Jahres sind die Zeit der Auszüge. Ein großer Aufbruch ist ausgebrochen, ansteckend wie eine Frühlingsgrippe. Ganze Familien sind befallen, man erkennt kaum die Autos unter so viel Gepäck. Die Leute verlassen die Stadt so übereilt, so beharrlich verreisen sie, dass sie keine Zeit finden, den Zurückbleibenden» Auf Wiedersehen «zu sagen. So hektisch brechen sie auf, als würden sie ihre Teppiche und ihre Sofas vor einem Hochwasser retten wollen. Die Idee, Sofas aufzuladen, finde ich gut. Wenn ich bei Oma bin, sitze ich immer auf Opa Slavkos Sofa. Wenn ich fernsehe, wenn ich esse, wenn ich schlafe und wenn ich hören will, ob mein Herz stehen geblieben ist. Die Ladas und die Yugos sind dermaßen voll beladen, dass die Unterböden bei der Tankstelle über den ausgebauchten Asphalt schleifen. Diese Straße bringt sie nach Titovo Užice, vielleicht sogar nach Belgrad oder nach Bulgarien, und wenn sie früher abbiegen, nach Veletovo. Aber etwas sagt mir, da will gerade niemand hin. Wo sie alle hinwollen, wissen Edin und Zoran nicht, meine Eltern auch nicht, und als ich gestern nach der Schule Kostina, den Schulhausmeister, fragte, wohin es in den Urlaub gehe, lachte er nervös, als hätte er Angst vor mir.

Edin und ich verbrachten gestern den ganzen Nachmittag vor der Tankstelle. Jeder in Višegrad kennt die Straße dort, man geht vom Gas, und der Auspuff bleibt dran. Gestern schien es aber, als hätten die Leute ihre Straßen vergessen: schwer beladen rasten sie über die Hubbel, und die Unterböden krachten so laut, dass eine alte Frau im Haus gegenüber ein Kissen auf den Sims legte und sich aus dem Fenster lehnte, um nichts zu verpassen. Am frühen Abend fuhr lange Zeit niemand mehr mit Koffern auf dem Dach vorbei. Ein Specht flog vorüber, und ich musste an die einen und die anderen Vögel denken. Die einen Vögel überwintern hier trotz der Kälte, die anderen Vögel fliegen in die Wärme. Sitzen die einen Vögel auf den Oberleitungen und sehen den anderen Vögeln hinterher wie wir den Autos? Bekommen sie ein mulmiges Gefühl, wenn die anderen Vögel von südlichen Orten singen — jetzt aber schnell in die Sonne, Nester zwischen Kokosnüsse hauen und nur noch Mandarinen fressen? Verdrehen sie die Augen und singen: ihr eingebildeten Formationsflieger! Die anderen Vögel kümmert es nicht, dass die einen Vögel dableiben, sie pfeifen ihnen die Meinung: ihr könnt doch auch, anstatt euch die Schnäbel abzufrieren, und ich fragte Edin: können Vögel eigentlich die Augen verdrehen?