Als Edins Mutter das Blut sah, legte sie die Hand vor den weit aufgesperrten Mund, riss die Augen auf und hechtete auf ihren Sohn zu. Halt deinen Kopf nach hinten, was ist passiert?
Aleks … Knie …, murmelte Edin.
Knie! schrie sie und packte Edin am Ohr, als hätte sein Ohr und nicht mein Knie das Nasenbluten verschuldet. Sie zerrte Edin zur Treppe, kehrte aber an der Schwelle um, als hätte sie etwas vergessen, hatte sie auch — mich. Es nutzte nichts, dass Edin» keine Absicht «rief, ihre Wut traf auch mein Ohr: sie schüttelte dran, bis es knackte.
Soldaten haben den Männern in den Bauch geschossen. Vornüber sind die zusammengesackt. Wie wenn du einen Volley abkriegst — so ist das. Das habe ich, fantasierte Edin, als er zurückkam, oben aus dem Fenster gesehen. Er flüsterte und drückte ein Handtuch an seine Nase. Ich glaubte ihm kein Wort, sagte aber nichts, welche Soldaten überhaupt, Čika Aziz, der Einzige mit einer Waffe in der Nähe, spielte gerade mit offenem Mund» Ghostbusters «auf seinem C-64, die Nachbarn sahen ihm rauchend zu, und Walross sagte gelangweilt: ordentlich platt gemacht, ich bin dran.
Erst wenn kein Blut mehr kommen und wenn seine Mutter nicht mehr in der Nähe sein würde, wollte ich ihm zeigen, was ich von seinen Märchensoldaten hielt. Edin faltete das Handtuch auf und zeigte mir, wie viel Blut er verloren hatte. Viel Blut war das, zwei Literflaschen vielleicht, aber ich wusste — Blut wächst nach. Edins Mutter schüttelte den Kopf. Sie stemmte die Hände in die Seiten und lief vor mir auf und ab. Sie klimperte am ganzen Körper. So viel Schmuck? Sie zog die Augenbrauen zusammen und fuchtelte mit dem Zeigefinger vor meiner Nase herum, die Armreife bimmelten heftig. Warte nur! zischte sie durch die Zähne. Ich schämte mich aber nicht für den Tritt und hatte keine Angst vor ihr — Edin und ich vertrugen uns doch längst wieder. Warte nur! Ich wartete und bald bimmelte sie davon, zu den anderen Müttern und den Töpfen auf dem Herd.
Die Erbsen köchelten schon auf dem Gottseidank-dass-wirnoch-Strom-haben. Durch das Luftgitter fiel immer weniger Licht. Zu hören waren vereinzelte Schüsse, ab und an eine Salve, dann Stille, dann eine ferne Explosion, dann wieder Geknatter. Es kam von den Straßen und nicht mehr aus den Bergen. Gegen sieben Uhr wurde es draußen so ruhig, dass unsere Mütter uns ermahnten, stilljetztstill! obwohl wir gar nichts sagten. Alles war wie immer, nur die Stille drückte lauter als sonst. Warum hörten alle der Stille zu?
Die Stille fletscht die Zähne, flüsterte Walross. Sonst sagte er» fletschen «zur Aprilsonne, wenn sie strahlt, ohne zu wärmen. Sogar die Rufe der Mütter klangen wie geflüstert: Abendessen! Die Großväter drängten ihre Köpfe dicht über ein kleines Transistorradio zusammen. Ich wünschte mir Opa Slavko hinzu. Was würde er sagen, jetzt, da alles zu unaussprechlicher Stille geworden war? Lange schon kam auch keine Musik mehr, immer redeten sie im Radio nur. Heiser sprach jetzt jemand davon, dass sich unsere Truppen von ihren Stellungen zurückzogen, um sich neu zu formieren. Schweigend stützten Großväter Ellenbogen auf Knie und Köpfe auf Hände, oder standen auf und stützten sich kopfschüttelnd auf ihre Stöcke. Alle fieberten mit unseren Truppen und den Stellungen unserer Truppen, obwohl niemand genau wusste, wer das war, diese unsere Truppen, und was das für wichtige Stellungen waren, die aufgegeben werden mussten. Erst als die heisere Radiostimme den Namen einer Stadt sagte, die genauso hieß wie unsere Stadt, wussten alle etwas. Auch ich wusste ein wenig — die heisere Stimme sprach» Višegrad «wie etwas aus, wovor man in keinem Versteck sicher war. Dieses Wissen war es, das in der Stille seine Zähne fletschte. Ich reihte die Murmeln aus meinen Taschen von hell nach dunkel auf dem Boden aneinander und trat mit der Sohle darauf. Jede Einzelne musste knirschen.
Was wir sonst wissen sollten, das redeten uns die Mütter ein. Nur abgekochtes Wasser trinken, ab halb zehn in den Keller gehen, Čika Aziz’ C-64-Rekorde nicht überbieten. Als die heisere Radiostimme jetzt Višegrad sagte, und ich mich fragte, wie kann es sein, dass eine Stadt fällt, muss das nicht ein Beben geben? wussten selbst die Mütter nicht, was zu tun war. Sie salzten die Erbsen und rührten im Topf.
Draußen löste eine hupende Hochzeitsgesellschaft die Stille ab. Zoran, Edin und ich schlichen aus dem Keller hinaus — erst in das Treppenhaus, der vorsichtige Blick aus dem Fenster, dann in den Hof, dann auf die Straße —, niemand hielt uns auf, aber die Rufe der Mutter hörten wir bereits hinter uns. Was sollte das jetzt? Bräutigame mit Bart, oben Tarnjacke, unten Trainingshose fuhren vorbei. Geländewagen hupten, Lastwagen hupten. Eine Armee von bärtigen Bräutigamen fuhr vorbei, sie schossen den Himmel an und feierten, die Stadt zur Braut genommen zu haben. Auf den Wagendächern und den Motorhauben schaukelten Bräutigame im Takt der Straßenlöcher, die sie selbst ausgeschachtet hatten, morgens ab neun Uhr dreißig, neun Tage lang, jeden Tag. Die Hände hielten sie flach über die Augen, schielten darunter hervor, mieden die untergehende Sonne. Hinten hingen aus den Anhängern Beine in Grün und Braun, baumelten wie Zierde.
Die ersten Panzer ziepten die Straße hinauf. Ihre Ketten hinterließen weiße Ritzen im Asphalt und machten, wo sie über Bürgersteige fuhren, Beton zu Kies. Es gab kein Halten mehr: wer ölt die denn, was quietschen die so? rief ich, und schon rannten wir auf die Panzer zu — rennen, das konnten am schnellsten wir! Die Mütter griffen sich in die langen Röcke und klagten uns nach, so schnell eilten wir zu den Panzern. Ja, wer fährt die denn, wie sieht das Lenkrad aus und können wir mit? An den Gärten vorbeiklappern, an den Höfen vorbei, in denen Koffer standen und Menschen, die sie verzweifelt in Kofferräume pressten und auf Autodächer stapelten. Wie es wimmerte und trillerte unter diesen Metallfäusten — der Zeigefinger ausgestreckt! Was zerrieb die Faust, was mahlte das Metall, was presste die Faust aus, wohin zeigte der Finger? Sogar die Brücke bog sich unter den Zahnrädern, ihre Bögen werden bersten, da ist Oma Katarinas Porzellan nichts dagegen. Im kleinen Park vor der Brücke, in dem die Statue von Ivo Andrić stand, bevor sie niedergerissen wurde, hielten wir an. Wir wollten hören, wie laut es würde, wenn die Brücke brach.
Die Mütter schlossen zu uns auf, ich holte mir von meiner eine ehrlich gemeinte Ohrfeige ab. Sie wusste, dass ich den Panzern auch auf das andere Ufer gefolgt wäre. Mir dröhnte nach der Ohrfeige der Kopf, so wie von den Panzern die Ziegeldächer vibrierten. Ich hielt mir die Hand an die Wange, und hörte, wie die stählernen Hundertfüßler die Straße zu Staub raspelten.
Die Brücke hielt.
Edin am Ohr, mich am Ärmel zerrten uns die Mütter zurück in den Keller.
Asija, meine Asija, war nicht mitgelaufen. Sie saß auf der untersten Treppenstufe, da sitzt man doch, wenn man keine Munition mehr hat, Spielregeclass="underline" Treppenaufgang — Waffenruhe. Ich setzte mich dazu, rieb mir die schmerzende Wange, sie rieb sich die Augen. Ich sagte: Kanonenrohr, sagte: Tarnfarben, sagte: schneller als Edin. Asija stand auf und rannte weinend die Treppe hinauf.
Vor zwei Tagen hatte Asija schon einmal geweint. Sie hatte geweint, bis sie einschlief, ihre Hand in meiner. Asijas Onkel Ibrahim hatte es getroffen, als er sich in Čika Hasans Bad rasieren wollte und den Kopf zum Spiegel neigte. In den Hals und ein bisschen in das Kinn hatte es ihn getroffen durch das kleine Fenster im Bad. Čika Hasan erzählte es den anderen, und ich hörte an der Tür mit: minutenlang hat Ibrahim nach Luft gerungen, um Luft gekämpft, als wollte er einen unendlichen Atem schöpfen, um von all den Dingen zu erzählen, die uns bevorstehen. Aber ich hatte, senkte Čika Hasan die Stimme, keine Luft für Ibrahim, und er kletterte in den Tod, ohne seine Geschichte begonnen zu haben, dabei ist sie auch ungesagt eine Legende geworden! Čika Hasan zeigte, wie er die Hände gehoben hatte, weil alle um Ibrahim bloß herumgestanden waren, und Hasan erzählte, wie er die Augen schloss, weil an Ibrahims Kopf und an den Fliesen und am Spiegel das Blut klebte. Überall Blut, sagte er — überall die Farbe von Kirschen, stellte ich mir vor, und wie sie von den Fingern troff, die in Ibrahims Hals gebohrt wurden, damit er Luft bekam.