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Višegrad kam gleich im Fernsehen, hier sind diejenigen die Aggressoren, die in unserem Fernsehen die Verteidiger waren, und die Stadt ist nicht gefallen, sondern befreit worden, weil nicht ein Held, sondern ein Verrückter den Staudamm sprengen wollte. Der Nachrichtensprecher sagte, Schulen haben den Unterricht und Betriebe wieder die Arbeit aufgenommen. Die Telefonarbeiter anscheinend nicht — wir bekommen immer nur das Besetztzeichen.

Nena Fatima warf Bohnen für Oma Katarina und las aus den Bohnen Oma Katarinas Zukunft wortlos ab. Ich fragte Nena Fatima, was sie eigentlich will. Nena beachtete mich nicht. Ich sagte: mich jetzt anzuschweigen, kann später schwerwiegende Traumata bei mir auslösen. Ich habe keine Ahnung, antwortete ich, als Mutter fragte, woher ich das habe.

Asija, kannst du aus den Bohnen lesen?

Oma Katarina will zurück nach Višegrad. Vater versuchte nicht, es ihr auszureden, Mutter schrie, als sie hörte, dass Vater schwieg.

Vater will schweigen.

Mutter will schreien.

Ich frage mich, was Onkel Miki will. Immer noch weiß niemand, wo er ist.

Ich will eine Geschichte aus einer anderen Welt oder aus einer anderen Zeit hören, aber alle reden nur vom Jetzt und von der Frage: und was jetzt? Wenn ich von dieser Zeit und dieser Welt erzählen würde, müsste ich danach versprechen, es in den nächsten zehn Jahren nie wieder zu tun. Beginnen würde ich so: Kaum haben die Mütter zum Abendessen gerufen, mit flüsternden Stimmen, stürmen Soldaten das Hochhaus, fragen, was gibt es, setzen sich zu uns an die Sperrholzplattentische im Keller.

Ich muss mir nichts ausdenken, um von einer anderen Welt und von einer anderen Zeit zu erzählen.

Heute Nacht hörte ich Mutter schlafend seufzen, sie wachte mit verkrustetem Blut unter der Nase auf. Mit den Nachbarn gibt es Probleme, weil wir in ihrer Nähe sind und sie diese Nähe nicht möchten. Hätte man auch ihnen einen Krieg gegeben, hätten sie sofort auf uns geschossen. Religion ist nicht das Opium des Volkes, sondern sein Untergang. Sagt jedenfalls mein Vater. Ein Junge aus der Straße nannte mich einen Bastard. Meine Mutter habe mein serbisches Blut vergiftet. Ich wusste nicht, ob ich ihn dafür zusammenschlagen sollte oder trotzig und stolz sein. Ich war weder trotzig noch stolz, und wurde zusammengeschlagen.

Asija, ich schicke dir ein Bild mit. Das bist du auf dem Bild. Es gibt leider keine solche Farbe wie dein Haar schön ist, deswegen erkennst du dich vielleicht nicht. Es ist mein letztes Bild des Unfertigen. Es ist unfertig, weil du alleine drauf bist. Früher habe ich das Unfertige gemocht.

Viele Grüße,

Aleksandar.

9. Januar 1993

Liebe Asija, ich wollte dir aus dem» Wörthersee «schreiben — Züge haben in Deutschland Namen —, aber der Wörthersee war so schnell, dass meine Augen mit der Landschaft nicht mitkamen und mir ein wenig übel wurde von so vielen schnellen Feldern und Häusern und einer schnell verdrückten Packung runder Kekssandwiches mit Schokoladenbelag. Wir wohnen seit zwei Wochen bei meinem Onkel Bora und meiner Tante Taifun in einer Stadt namens Essen, gleich an einer Autobahn. Oma Katarina ist zurück nach Višegrad, sie sagte: ich will bei meinem Mann bleiben.

Wo er ist, braucht er niemanden, sagte mein Vater.

Jeder braucht jemanden und die Toten sind die einsamsten, sagte ich und musste aus dem Zimmer. Noch haben wir von Oma nichts gehört, es ist schwer, durchzukommen.

Nena Fatima hat seit Belgrad ein Geheimnis. Die ganze Zeit schreibt sie etwas, versteckt es aber unter ihrem Kopftuch. Wenn ich mir eine Stimme für Nena Fatima aussuchen könnte, wäre sie die einer souveränen Hexe, die noch was zu lachen hat, bevor das Märchen einen guten Ausgang nimmt: ein wenig kratzig, selbstbewusst und voller Pläne. Würde meine Nena kluge Sachen sagen, wenn sie spräche? Wie klänge ihr Gesang?

Silvester war eine Katastrophe. Ich bekam eine Jeans geschenkt. Onkel Bora kaufte Raketen und Böller, und wir setzten uns bunte Hüte auf den Kopf und hörten unsere Musik etwas lauter als sonst. Meine Mutter sagte: egal, was ich koche, es schmeckt nicht. Mein Vater sagte: egal, was ich trinke, es hilft nicht, und begrub das Gesicht in den Händen, da war es kurz vor Mitternacht. Um zwölf umarmte jeder jeden, dann verschossen Onkel Bora und ich das Feuerwerk und die kleine Ema, der kleine Taifun, wachte auf und schrie.

Wie war es bei dir? Liegt bei euch eigentlich Schnee? Hier schon, aber nur für fünf Minuten, und er sieht aus, als wäre er schon im Fallen schmutzig geworden, er kommt bräunlich auf die Erde.

Ab morgen gehe ich in eine deutsche Schule. Ich werde versuchen, nicht so taubstumm zu sein wie Nena Fatima und habe deswegen die ersten zehn Wörterbuchseiten auswendig gelernt. Onkel Bora sagt, ich sei in Mathe den Deutschen drei Jahre voraus. Wenn man mein mangelndes Mathetalent davon abzieht, bleibt immerhin noch ein Jahr. Die Schulnoten sind hier falsch herum und in unserem Stadtteil gibt es fast nur Türken. In den Kaufhäusern kann man Nintendo spielen, es ist mir noch nicht gelungen, über Nacht in so einem Kaufhaus vergessen zu werden, aber ich habe schon einen Plan. Meine Mutter war letzte Woche krank, konnte dem Arzt aber das Aussehen ihrer Schmerzen nicht erklären und kam noch kränker zurück.

Fünf oder sechs andere Familien aus Bosnien wohnen mit uns im Haus, fünfundzwanzig Leute auf zwei Stockwerken. Es ist alles sehr eng, die Bäder immer besetzt, und ich kann mit der Fernbedienung von meinem Onkel den Fernseher von Čika Zahid ausschalten, das macht ihn wahnsinnig, er glaubt an Nazi-Geister. Gleich in der Nähe ist ein kleiner Bahnhof, und Čika Zahid wartet dort auf Grün, um die Schienen zu überqueren. Mit seinem Sohn Sabahudin fahre ich auf Sofakissen Bob unter der Autobahnbrücke. Sabahudin hat sich nach seiner Ankunft drei Tage lang die Zähne mit Rasierschaum geputzt.

Gestern wurden wir für Deutschland erlaubt. In einem großen Büro mit hundert Türen warteten wir drei Stunden vor dem Buchstaben K. Die Wartenden sprachen unsere Sprache, die man nicht mehr serbokroatisch nennen soll, drängten sich um den Aschenbecher und hinterließen Matsch auf dem Boden und Sohlenstempel an der Wand. Um uns K’s kümmerte sich Frau Foß. Sie lächelte milde, feine Grübchen, und in den Kragen ihrer rosafarbenen Bluse hatte sich eine rosafarbene Brosche festgebissen. Überall im K-Zimmer grinste eine Maus mit dem Namen Diddl von den Postkarten. Frau Foß war der freundlichste und der geduldigste Mensch auf der Welt, sie grinste wie ihre Maus und schenkte meiner Mutter ein Taschentuch. Wir konnten nicht viel sagen, mussten es aber auch nicht, Frau Foß wusste, was mit uns zu tun sei. Wir bekamen Stempel in unsere Pässe, weil Frau Foß mit uns hier einverstanden war. ß ist jetzt mein Lieblingsbuchstabe und eine sehr schöne Erfindung, weil darin zwei s untergekommen sind. Ich würde gern Alekßandar Krßmanović heißen und sagte zu Frau Foß im Hinausgehen: Aal, aalglatt, Aas, ab, abändern, Abänderung, abarbeiten, Abart, abartig, Abbau, abbauen, abbeißen, abbekommen, abblasen, Danke! Danke wusste ich, obwohl ich noch nicht so weit war mit dem Wörterbuch. Onkel Bora sagt, Frau Foß habe ihn noch nie verarscht.

Asija, wir schlafen alle in diesem kleinen Zimmer und sind alle eine Spur wütender als zu Hause, auch in den Träumen. Manchmal wache ich auf und male Fingerschattenvögel an die Wand, eine Laterne vor dem Fenster sieht streng zu uns hinein, als passte sie auf, und Onkel Bora versprach, die helle Drecksau bald zu fällen. Für Gardinen gibt es keine Geldpriorität, auch nicht für eine Leinwand und Farben für Vater, aber Mutter und er suchen schon eine Arbeit.

Heute Nacht wachte Tante Taifun kurz nach mir auf. Sie ist langsamer geworden, meine schöne schnelle Tante mit dem hellen Haar, die vor Liebe für ihre Tochter Ema Tränen in den Augen trägt und tausend gute Wünsche für jeden übrig hat. Im grellen Laternenlicht zählte ich die Müdigkeiten in ihrem Gesicht, Falten und Schatten. Sie lächelte mich an, flüsterte: Aleks, niemand hat so einen Kopf wie du, meine Sonne, hab nur keine Angst.