In der neuen Wohnung haben wir viel mehr Platz und sind weg von all dem Schmutz und Tratsch und Krach und dem Pfeifen der Autobahn und dem Gefühl, dass man nie im Leben entfernter sein könnte von einem Zuhause. Asija, wo ist dein Zuhause? Ich habe keine Ahnung, wo du bist. Gibt es in Sarajevo überhaupt noch Adressen?
Ich habe Višegrad angerufen. Bis auf Oma Katarina und Zoran habe ich niemanden erreicht. Oma Katarina redet viel über früher. Wir hören ihr zu, wir widersprechen ihren Erinnerungen nicht, wir sagen: gut, Oma.
Erinnerst du dich an Zoran? Ein Freund aus Višegrad, ein schweigsamer Rebell! Er sagt, die Stadt ist voller serbischer Flüchtlinge. Sie wohnen in der Schule oder haben sich einfach die leeren Häuser und Wohnungen von den vertriebenen Bosniaken genommen. Und die sind vielleicht jetzt in den serbischen Wohnungen. Am Ende wird niemand dort sein, wo er vorher war. Auch in unserem Haus lebt eine Familie. Oma sagt, das sei in Ordnung, weil sie kleine Kinder haben. Zoran sagt, die Višegrader können die Neuen nicht ausstehen, er selbst hasse sie, so viel gesprochen hat Zoran noch nie, Zorans Hass ist groß.
Schalke 04 ist meine Lieblingsmannschaft, ich habe einen Angelschein und mein bester Freund hier, Philipp, hat mir» Sensible Soccer «ausgeliehen, ich höre Nirvana und träume auf Deutsch. Ich träume von einem PC, damit ich Sensible Soccer wirklich spielen kann und Philipp nicht anlügen muss, wie viele Tore ich gegen Brasilien geschossen habe.
Ich lasse mir das Haar wachsen.
Viele herzliche Grüße,
Aleksandar.
Hallo. Wer? Aleksandar! So was, woher rufst du an? Nicht schlecht! Beschissen, und selbst?
… ich hasse auch, dass das Wasser mittags abgedreht wird und dass die Laternen nicht funktionieren und dass der Strom ständig ausfällt und dass der Müll nicht abgeholt wird und dass es so kalt sein muss, hasse ich am allermeisten. Sie haben beide Moscheen niedergebrannt, niedergerissen haben sie die, und jetzt soll das ein Park sein, aber das ist kein Park, das ist eine kaputte Leere, um die vier Bänke aufgestellt wurden, und ich hasse jeden, der sich da hinsetzt, nicht mal Mister Spok tut es, und ab und zu kommt einer mit der Gießkanne vorbei, aber es will dort nichts wachsen. Du würdest sagen: eine klaffende Wunde, und dass aus einer Wunde nichts wachsen kann. Dann würdest du irgend so einen Zauberquatsch beschwören, aber du bräuchtest eine scheißmächtige Magie, um die Dinge hier besser zu machen. Die Soldaten haben einen Reigen um die Trümmer der Moschee getanzt. Ich hasse das Gymnasium, ich hasse die Lehrer dort, ich hasse es, dass wir zu vierundfünfzigst in einer Klasse sein müssen, ich hasse es, dass ich für alles anstehen muss, weil es an allem mangelt, außer an Menschen und am Tod. Ich hasse meinen Vater, ich hasse seinen Stolz und seinen Trotz und seine Prinzipien. Seit einem halben Jahr versuchen Milica und ich, ihn zu überreden, diese Hölle zu verlassen, und ich hasse es, dass er davon nichts wissen will; ich hasse, dass er eine Trafik aufgemacht hat, genau dort, wo Bogoljubs Trafik stand, aber was sollte er sonst machen: Basketballschiedsrichter sind das Unnötigste überhaupt, hier spielt niemand mehr irgendetwas, sogar die Turnhalle ist voller Leute, ich weiß nicht mal, ob das Gefangene sind oder Flüchtlinge. Ich hasse die Soldaten. Ich hasse die Volksarmee. Ich hasse die Weißen Adler. Ich hasse die Grünen Barette. Ich hasse den Tod. Ich lese, Aleksandar. Ich lese und liebe das Lesen, der Tod ist ein Meister aus Deutschland, er ist gerade ein Weltmeister aus Bosnien. Ich hasse die Brücke. Ich hasse die Schüsse in der Nacht und die Leichen im Fluss, und ich hasse es, dass man das Wasser nicht hört, wenn der Körper aufschlägt, ich hasse es, dass ich so weit weg bin von allem, von der Macht und von dem Mut; ich hasse mich, weil ich mich oben am alten Gymnasium verstecke, und ich hasse meine Augen, weil sie nicht genau erkennen können, wer die Leute sind, die in die Tiefe gestoßen werden und im Wasser erschossen werden, vielleicht sogar schon im Flug. Andere werden gleich auf der Brücke getötet, und am nächsten Morgen knien die Frauen dort und schrubben das Blut ab. Ich hasse den Typen vom Staudamm in Bajina Bašta, der sich beschwert, man solle nicht so viele Leute auf einmal in den Fluss werfen, weil die Abflüsse verstopfen. Ich hasse die Hotels — Vilina Vlas und Bikavac, ich hasse die Feuerwehrstation, ich hasse die Polizeistation, ich hasse Lastwägen voller Mädchen und Frauen, die zur Vilina Vlas fahren, ich hasse brennende Häuser und brennende Fenster, durch die brennende Menschen vor die Gewehre springen, und ich hasse es, dass die Arbeiter arbeiten, dass die Lehrer lehren, dass die Tauben sich in die Luft werfen, und dass es so kalt ist, hasse ich am allermeisten. Weil der scheiß Schnee nichts, nichts, nichts verdeckt, wir aber unsere Augen so gekonnt verdecken, als hätten wir nur das gelernt in all den Jahren der Nachbarschaft und der Brüderlichkeit und der Einheit. Ich hasse es, dass alle alles verurteilen, dass alle alles hassen, dass alle auch im Hass die Guten sind, dass ich der Gute bin, hasse ich noch mehr als den Schnee und den serbischen Bronzesoldaten. Ich hasse es, dass ich mich nicht traue, den Bildhauer zu fragen, warum sein Denkmal ein Schwert trägt und kein blutiges Messer. Und ich hasse dich. Ich hasse dich, weil du weg bist, ich hasse mich, weil ich bleiben muss, hier, wo die Zigeuner es nicht für nötig halten, ihre Zelte aufzuschlagen, wo sich Hunde zusammenrotten und niemand in der Drina schwimmen geht. Du hast mir einmal erzählt, dass du mit der Drina gesprochen hast. Spinner. Ich frage mich, was sie jetzt erzählen würde, wenn sie es wirklich könnte. Was würde sie schmecken, wenn sie einen Geschmack hätte? Wie schmeckt so eine Leiche? Kann auch ein Fluss hassen, was meinst du?
Mein Hass ist endlos, Aleksandar. Auch wenn ich die Augen schließe, ist alles da.
16. Dezember 1995
Liebe Asija, Onkel Miki lebt! Er ist endlich wieder zu Hause in Višegrad, er wohnt sogar in unserem Haus. Drei Jahre wusste niemand, was mit ihm war, dann schickte er einen Brief an Oma. Ihm gehe es gut, er wolle bald zurück, las uns Oma den Brief am Telefon vor. Zurück von wo, stand nicht darin. Oma erzählte, Leute hätten Miki schon ’92 in Višegrad gesehen.
Im Hotel Bikavac? hob Vater die Stimme, auf keinen Fall!
Über Oma Katarina und die Telefonate mit ihr schüttelt niemand mehr den Kopf. Vater sagte einmal in den Hörer: ich weiß nicht, ich weiß einfach nicht. Er presste seine Lippen zusammen und griff sich mit Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel. Oma kennt keine Gegenwart mehr und hat für jeden von uns eine eigene Vergangenheit. Ich zahle den Kredit zurück, erklärt sie, den mir die Zeit gewährt hat. Jeden ereilt seine Vergangenheit in der Omaversion. Vor einem halben Jahr stellte man bei ihr astronomische Zuckerwerte fest, und die Insulin-Behandlung verwandelte ihr Leben in eine Achterbahnfahrt. Den Tagen, an denen sie am Telefon bekümmert und nachdenklich klingt, folgen aufgedrehte Anrufe bei der ganzen Verwandtschaft. Tante Taifun meint, wir würden übertreiben und alles viel zu ernst nehmen, es sei doch nett, zu erfahren, wie man früher gewesen sei. Seit Tante Taifun auch einen Anruf von Oma bekommen hat, sagt sie zu dem Thema nichts mehr.
Gestern gab es ein Fest. Onkel Bora nannte es» Die Dayton-Flaschensitzung «und schrieb eine Rede voller Witze über Krieg, Frieden, Vegetarier und mein langes Haar. Ich kann mir schon einen Zopf machen. Mein Vater sagte: Witze über Dayton braucht man nicht zu machen, Dayton ist der größte Witz. Ein Friedensabkommen, das die ethnische Säuberung politisch akkreditiert! Vater wird sein Leben lang fast alles sagen und fast nie etwas tun. Da sind wir uns sehr ähnlich, er und ich, bloß sage ich etwas mehr als er und tue noch etwas weniger.