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Ich stelle mir vor, dass die Freude über den Frieden bei euch noch viel größer ist. Wenn ich ehrlich bin: ich freue mich zwar auch sehr, aber jetzt habe ich Angst, was mit uns passiert. Es sieht so aus, als müssten wir zurück nach Bosnien. Ich möchte aber nicht in die Stadt zurück, aus der man alle vertrieben hat. Nicht zurückzuwollen, ist die einzige Sache, in der meine Eltern und ich einer Meinung sind. Als sie sich mit Onkel und Tante darüber unterhielten und Mutter sagte, eher krepiere ich, als den Mördern in die Augen zu sehen, stand Nena Fatima auf, schrieb» danke und auf wiedersehen «auf das Dekolletee der» TV Spielfilm«-Frau, riss das Blatt ab und klebte es sich auf die Stirn.

Nena Fatima trägt ihr Kopftuch nur noch, wenn es draußen nieselt, und in Essen nieselt es immer. Sie hat einen Riesengarten mitten im Innenhof angelegt. Tomaten und Gurken und Paprika. Der Hausmeister war da und mit ihm die Polizei, sie sahen sich Nenas Garten an, und wir sind alle auf die Anzeige gespannt. Nena Fatima ist der einzige Mensch in der Familie, mit dem ich zurechtkomme. In den Garten kacken die ganzen Terrier von unseren Nachbarn rein, und ich esse jetzt gar keinen Salat mehr.

Ich saß mit Nena im Garten, als sie mir ihr Geheimnis gab. Sie griff unter ihr Kopftuch und legte einen lapprigen, eingerissenen Zettel zwischen uns. Sie reichte mir einen Kamm und drehte sich um. Nenas langes Haar. Ich kämmte es. Als ich fertig war, stand sie auf und ließ den Zettel da.

Viele liebe Grüße,

Aleksandar.

was ich eigentlich will

Ich will reden wieder reden ich will reden wieder reden aber einen grund brauch ich soll ein guter grund sein das ist so

ich will alles sehen

auch im grab will ich weitersehen am liebsten auch im schlaf ich will einen guten grund nichts zu sehen tod ist kein guter grund ich will sehen was ich koche

ich will in die welt will ich

der mistkrieg kommt mir grad recht

mit meinem mann mit dem rafik das war ja nix

der hat seinen gekrümmten rücken im kopf getragen sein ganzes leben war gekrümmt und geduckt das war ja nix ich will jetzt noch ein bisschen jung sein so alt bin ich nicht mit dem rafik konnt ich nur alt sein musst zuhause bleiben der hat gearbeitet und ich war daheim und er wollt nicht dass männer sehen wie schön ich mein haar hab

ich will immer schönes haar das braucht pflege

ich will in die welt raus und deswegen bin ich raus von rafik weil er prinzipien hatte von drina bis china

ich will freundlich sein

ich will eine unmaskierte sonne aber wer kann schon wolken aufhalten

wär ich zauberer wie du wär das anders mit dem regen und dem fortschritt und den vulkanen und megdan würde feuer spucken ganz andere sorgen hätten wir als jetzt

ich will euch noch ein bisschen nützlich sein aber mir mehr

ich will nicht immer zu jedem gut sein lieber warte ich

ich will wissen wie du mit zwanzig bist und was du weißt so alt war dein opa als ich ihn heiraten musste

in meinem dorf stand ein walnussbaum unter dem hat es im sommer so oft geschneit wie es unverheiratete mädchen gab ich will einen anderen mann finden oder auch nicht

ich will nie wieder vieh hüten und keine höflichen vögel

ich will einmal auf etwas stolz sein das ich zerbrochen hab

ich will nicht an einsamkeit sterben oder an schuld oder an einer fischgräte oder an einem fluss ich will beim sterben das gefühl haben ganz viel schmuck zu tragen das ist so

ich will einmal fliegen und einmal auf einen vulkan steigen und da einen stein reinwerfen.

nena fatima

1. Mai 1999

Liebe Asija, entschuldige, dass ich dir so lange nicht geschrieben habe. Bekommst du überhaupt meine Briefe? Gibt es dich? Ich schreibe weiter, ich bin in letzter Zeit ohnehin viel allein, mache mir aber nichts aus.

Meine Eltern leben seit einem Jahr in den USA. In Florida. Für immer, erst mal. Vater hat eine Kokosnuss gepflückt und seit sieben Jahren wieder das erste Bild gemalt. Er nennt es» Selbstporträt mit Coconut «und die gewählten Farben ein Duett von Ocker und Braun auf sattgrüner Sommerwiese. Mutter fing in einer Anwaltskanzlei an, sie meint, das sei nicht schwer, die Gesetze seien viel übersichtlicher als bei uns. Sie hat sich Schlittschuhe gekauft, fährt jeden Sonntag zur Eishalle und möchte ein Footballspiel im Stadion sehen, ohne meinen Vater. Sie findet, die Spielerhosen sitzen so gut.

Wenn sie nicht ausgewandert wären, hätte man sie nach Bosnien zurückgeschickt. Freiwillige Rückkehr nennt sich das. Ich finde, etwas Verordnetes kann nicht freiwillig sein und eine Rückkehr keine Rückkehr, wenn es sich um einen Ort handelt, dem die Hälfte der ehemaligen Bewohner fehlt. Das ist ein neuer Ort, dahin kehrt man nicht zurück, da fährt man zum ersten Mal hin. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie es wäre, in Bosnien zur Schule zu gehen. Ich sehe nur mein altes Klassenzimmer und Edin in der Bank hinter mir. Titos Bild hängt noch an der Wand. Wegen der Schule durfte ich hier bleiben, meine Eltern fanden es sinnvoll, dass ich das Abitur in Deutschland mache. Mutter schrieb mir elf Rezepte auf, zehn einfache und das Pflaumenhackfleischschnitzel. Sie erklärte mir, was Kochwäsche ist.

Das letzte Jahr in Essen ging es uns etwas besser. Mutter kündigte eines Morgens einfach in der Wäscherei. Sie meldete sich für einen Deutschkurs an, lernte drei Monate lang jeden Tag. Danach schrieb sie siebzig Bewerbungen. Bei der einundsiebzigsten erwähnte sie nicht, dass sie Bosnierin ist und bekam einen Job als Kassiererin.

Mit Vater sprach ich hier so selten, dass ich manchmal überrascht war, wenn ich meinen Namen in seiner Stimme hörte. Mutter war krank, dann gesund geworden, Vater still, dann älter geworden und jetzt sitzt er in der Sonne, malt wieder Stillleben und verkauft sie sogar.

Weißt du, Asija, ich habe mir keine Mühe gegeben. Ich habe mir all die Zeit keine Mühe gegeben, nachzufragen oder überhaupt zu fragen, was meine Eltern denken oder was sie wollen oder wie ich helfen kann, damit es uns hier besser geht. Es war mir peinlich, zu ihren Vorstellungsgesprächen mitzugehen, es war mir peinlich, die an sie gestellte Frage zu übersetzen: wie gut ist Ihr Deutsch? Für meine taubstumme Nena Fatima habe ich mich nie geschämt, obwohl sie bei Witzen lachte und im Schlaf redete. Sie hatte hier mehr Freundinnen, als ich jemals Freunde haben werde. Sie hörte ihnen zu, wenn sie sich unterhielten, wurde um Meinung gefragt, nickte oder schüttelte den Kopf. Dann saß sie aber auf dem Bürgersteig vor dem Haus und hat sich die Zehennägel geschnitten. Über Florida hat sie sich am allermeisten gefreut. Sie steht früh auf und schwimmt im Swimming-Pool der Nachbarn jeden Tag eine Bahn mehr.

Ich wünschte mir manchmal, dass man mich» Alexander «schreibt und oft, dass man mich einfach in Ruhe lässt. Lange Zeit dachte ich, dass ich meine Pubertät nur spiele, damit sich meine Eltern keine Sorgen machen. Irgendwann wollte ich aber wirklich keinen Krieg mehr sehen und von keinem Leiden mehr etwas wissen, von keiner Flucht.

Heute ist 1. Mai, und Oma Katarina möchte mir ein Paket aus Višegrad schicken. Oma Katarina möchte mir immer am 1. Mai ein Paket schicken. Fotos von Tito, Opas Reden und Orden, meine Pionieruniform. Oma erzählt mir jedes Jahr um diese Zeit, dass ich die Uniform besonders gern an kirchlichen Feiertagen getragen habe, ganze Passagen aus dem» Kapital «auswendig konnte und ihre Bedeutung verstanden habe.