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Er blättert um. Milan quengelt, reibt sich die Augen.

Hanifa sagt: ich habe ein bisschen Deutsch gelernt, in den drei Jahren Graz. Aber Vukojebina könnte ich nicht übersetzen. Kennst du Vukojebina?

Wo Wölfe … miteinander …, sage ich vorsichtig mit dem Blick auf Milan.

Hinter Gottes Füßen, ruft Kiko dazwischen, ich habe gesehen, wie sich da ein Pferd in eine Schlucht gestürzt hat, weil es keine Kraft mehr hatte, unsere Artillerie den Berg hinab-, hinaufzuschleppen, über Wege, die keine Wege sind. Umgebracht hat es sich … Kiko blättert gedankenverloren um. Man sieht ihn neben einem Riesen von einem Mann stehen. Der Riese trägt eine Latzhose und eine Mütze, die auf seinem massigen Kopf verloren wirkt. Sie sind beide bewaffnet. Kiko trägt eine Lilie der bosniakischen Armee an der Brusttasche, der große Mann die Kokarde mit dem serbischen Doppeladler an der Mütze. Sie haben einander den Arm über die Schulter gelegt und sehen verbissen geradeaus. Verbissen türmen sich auch die kargen Felsen hinter ihnen auf.

Wer ist das? fragt Kiko seinen Sohn und zeigt auf die Latzhose. Der Kleine steckt sich die halbe Faust in den Mund. Milan, wer ist das? wiederholt Kiko.

Čika Mikimaus! jauchzt Milan wie über jemanden, der immer, wenn er vorbeikommt, Schokolade und Bonbons mitbringt, und Hanifa sagt: Vukojebina, das kann man eigentlich nicht übersetzen.

Soll man auch nicht. Kiko nimmt Milan auf den Schoß. Einen solchen Ort darf keine andere Sprache als unsere beschreiben können, sagt er.

Der Soldat neben Kiko hat den Mund geöffnet, als schnappe er nach Luft. Wie kam es zu dem Foto? frage ich.

Eine Waffenruhe. Das neben mir, das ist Milan Jevrić, sagt Kiko, und sein Sohn ruft: Mikimaus! Kiko küsst ihn auf den Hinterkopf. Mein Milan trägt wegen ihm einen serbischen Namen. Kiko blättert weiter. Ein Foto von ihm in einem Schützengraben, knöcheltief im trüben Wasser. Igman, hinter Gottes Füßen, sagt er und blättert um. Der mit dem grünen Barett, das ist Meho. Ein Wahnsinniger. Wahnsinnig, weil er ein zu großes Herz hatte. Und hier teile ich Zigaretten an die Gefangenen aus. Das sind Hanifa und ich in Mostar. Mein Milan nach der Geburt, dreieinhalb Kilo. Wir müssen mal die Fotos sortieren, sagt Kiko und blättert, und auf dem letzten ist ein Ball zu sehen, ein zerschlissener Fußball im hohen Gras.

Ich steige in den 13-Uhr-Bus nach Višegrad. Drei andere Männer haben bereits Platz genommen, einer liest Zeitung, einer schläft, einer sieht mich an. Ich setze mich in die letzte Reihe, die Sitze sind braun und gelb gemustert, die Kopflehnen glänzen fettig. Es wird 13.00 Uhr. Es wird 13.05 Uhr. Vor der Tür raucht ein Mann mit lichtem Haar und Falten unter den Augen eine Zigarette, dann noch eine, nach der dritten steigt er ein und setzt sich ans Steuer. Kurz bevor der Motor anspringt, seufzt der Bus. Ich kann ihn verstehen, er hat es in seinem Alter nicht leicht auf diesen Straßen, ich schlafe, den Kopf am vibrierenden Fenster, ein.

Die Drina weckt mich. Ich schlage die Augen auf, als der Bus in einer kleinen Ortschaft, deren Name mir nicht einfallen will, auf die Straße biegt, die parallel zum Fluss bis nach Višegrad führt. Zahlreiche Tunnels kappen immer wieder das Tageslicht, nur wenige sind beleuchtet. Ich ziehe auf die rechte Fensterseite um, links schichten sich klotzige Felsen auf, dünn bemoost und spärlich von abgezehrten Pflanzen bewachsen. Rechts: mein Fluss. Ich bestätige mir den Gedanken — mein Fluss, die warmgrüne Drina, gefasst und makellos sauber. Die Angler, die Klippen, die Abstufungen von Grün.

Wir nähern uns der Stadt auf der kurvigen Straße, vorbei am Staudamm, in dessen Nähe Nester aus Treibholz und Plastik treiben. Das Tal weitet sich, gleich wird man die Brücke sehen können. Meister, kannst du hier mal halten, ruft ein junger Mann, der unterwegs zugestiegen sein muss, und der Bus ächzt.

Als hinter einer engen Kurve der Blick auf die Brücke frei wird, bin ich überrascht, obwohl ich mir fest vorgenommen habe, alles so vorzufinden, wie es immer war. Dem Reflex, die Bögen zu zählen, widerstehe ich, sie ist komplett. Der Fahrer schiebt eine Kassette ein, und ich muss an Walross denken, und an mein Versprechen, niemals eine Kassette zu erschießen. Es läuft Madonna.

Eh, Boris, alle Ehre, aber muss das jedes Mal sein? fragt der Mann mit der Zeitung. Der Fahrer dreht lauter, like a virgin, singt er und tippt mit den Fingern im Takt auf das Lenkrad.

Der Busbahnhof kommt mir viel kleiner vor als früher, aber genauso schäbig. Boris steuert eine der fünf Parkinseln an, abseits parken vier heruntergekommene Busse, darunter — ich erkenne ihn sofort — der Centrotrans-Bus, mit dem Walross halb Jugoslawien befahren hat. Die Karosserie verwahrlost, der Rost fletscht die Zähne, graues Unkraut wuchert von innen durch die Fenster, belegt die Felgen. Ich steige als Letzter aus, wohin, junger Mann? ruft Boris, aber ich tue, als sei ich nicht gemeint und betrete den kleinen Warteraum im Bahnhofsgebäude. Die Tür existiert nicht mehr, Uringeruch steigt mir in die Nase, der Ticketschalter ist verlassen, die Wandfarbe, etwas zwischen Beige und Gelb, blättert ab. Hallo? rufe ich hinein, es hallt. Ich möchte Armin begrüßen, den Stationsvorsteher mit dem unbeherrschten Bein, er steht auf einer meiner Listen. Ist er überhaupt in der Stadt? War Armin Muslim?

Wen suchst du? Boris steht hinter mir, raucht, eine Hand spielt mit dem Schlüssel in seiner Hosentasche.

Armin, den Stationsvorsteher, sage ich und wende mich zum Gehen, aber Boris versperrt mir den Weg, nimmt einen Zug von seiner Zigarette und sagt: einen Armin hat es hier nie gegeben.

Ach, sage ich, sehe an Boris vorbei, die anderen Passagiere sind schon verschwunden. Boris, ich und fünf Busse, davon vier kaputte mit rostigen Felgen, müssen das hier unter uns ausmachen.

Wohin willst du? fragt er und deutet mit der Zigarette auf meine Reisetasche.

Wer Madonna hört, kann doch nicht gefährlich sein, geht mir durch den Kopf, und ich sage so beiläufig wie möglich: ach, ich besuche meine Großmutter.

Boris runzelt die Stirn, hält die Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger, wenn er einen Zug nimmt. Wie heißt sie?

Katarina, sage ich lauter als beabsichtigt, Katarina Krsmanović, Zucker und Diabetes, stottere ich, in letzter Zeit kann sie nicht mehr, versuche ich zu erklären, bemerke dann eine Veränderung im Gesicht des Busfahrers. Sein Blick wechselt von aufdringlich zu neugierig. Er lässt mich ausreden und drückt, nach einem letzten kurzen Zug, die Zigarette mit der Schuhsohle aus.

Kennst du Miki Krsmanović? fragt er.

Ja, das ist mein Onkel.

Onkel, so? Boris sieht sich um, zieht seine Hose hoch und setzt eine riesige Sonnenbrille auf. Er greift nach meiner Tasche, ich ziehe die Hand zurück und mache einen Schritt in den Warteraum. Wir haben den gleichen Weg, sagt er.

Müssen Sie nicht weiter?

Schon, sagt er, aber ich fahre ungern mit leerem Magen. Komm, ich helfe dir mit der Tasche.

Geht schon, ist nicht schwer, sage ich und nehme ihm die Tasche aus der Hand. Sie kennen meinen Onkel?

Nein, sagt er und spuckt durch die Zähne, Gott sei Dank nicht.

Ich habe Listen gemacht. Beinamen. Der mit dem unbeherrschten Bein. Zylinderhut. Mein Trauriger. Der Dreipunktemann. Taifun. Der singend ins Gebirge stieg und niemals wieder zurückkam. Walross und Marienkäfer. Kartoffel-Aziz. Massaker. Der mit Gold im Mund.

Boris und ich kommen am Fußballstadion vorbei, Jugendliche trainieren den Kopfball, ich denke an Kikos Stirn. Ein Mann mit langem Zopf wirft ihnen Bälle zu, die sie in die Maschen köpfen. Der Mann trägt Anzug und Seidenschal. Einen Torwart gibt es nicht. Boris und ich laufen schweigend nebeneinander, hinter uns das Klatschen des Balles gegen das Gebälk. Boris zuckt mit den Schultern. Wir überqueren die Brücke über den Rzav, von der Edin und ich am Tag des Soldatenreigens die Fische mit Spucke gefüttert haben. Der Fluss ist seicht, weiße Schauminseln treiben mit der Strömung. Ich spucke. Die Brücke hat alle Hochwasser ausgehalten.