Ich habe Listen gemacht. Barbe, Döbel, Frauennerfling, Gründling, Hasel, Huchen, Karpfen, Moderlieschen, Wels mit Brille und Schnurrbart.
Über Onkel Miki sprechen wir nicht mehr, auf meine Nachfrage winkt Boris ab und redet von anderen Dingen. Er lenkt mich von den Farben und den Gerüchen der Stadt ab, fragt, wie alt ich damals gewesen sei, wo genau ich in Deutschland gelebt habe, ob ich ihm ein Visum besorgen könne und was dran sei an den Gerüchten über Madonna und Guy Ritchie. Zum Abschied, vor dem Hochhaus, in dem Oma Katarina lebt, sagt er dann: nichts für ungut. Weißt du nichts, bist du ein Idiot. Weißt du viel und gibst du es zu, bist du ein gefährlicher Idiot. Višegrad weiß immer genau, wie viel es wissen darf und verraten soll.
Im Hof vor dem Hochhaus spielen sechs schwarzhaarige Jungs Fußball, Schulranzen als Pfosten, der Ball rollt mir vor die Füße; ich stelle die Tasche ab. Sie greifen nach einer ersten Verlegenheit an, wer ist bei mir? rufe ich, wer ist bei mir? Einer läuft sich auf links frei, Čiko! ruft er, ich passe ihm in den Lauf, er hat nur noch den Torwart vor sich und täuscht an.
Im Treppenhaus brennt kein Licht, die Lichtschalter sind rausgerissen. Drähte ragen aus den Löchern, dünne, kopflose Hälse, blau und rot. Die Gänge enger, die Treppen kürzer als damals, und die Luft trägt so schwer Brot, als würden alle im Haus gleichzeitig backen. Kein Name am Klingelschild, wo Teta Amela, die beste Brotbäckerin der Welt, gewohnt hat. Meine Oma hustet hinter der geschlossenen Tür, an deren Klingelschild» Slavko Krsmanović«steht. Es klingelt nicht, kein Strom, ich klopfe.
Ich habe Listen gemacht. Die Moscheen. Eine der beiden soll wieder aufgebaut werden. Es gibt konkrete Pläne dafür und konkrete Proteste dagegen. An den Kastanien, nicht weit von dem Platz, wo das Minarett der größeren Moschee in den Himmel wies, hängen wie früher die Todesanzeigen. Die grün umrandeten mit arabischen Schriftzeichen und die schwarz umrandeten mit dem Kreuz. Es steht vierzehn zu eins für die toten Christen. Nur wenige Muslime sind in ihre Häuser zurückgekehrt.
Aleksandar, sagt Oma Katarina, ich habe Brot gebacken, gleich setze ich die Milch auf.
Die Umarmung ist kurz. Oma reicht mir bis zum Hals, am Hals küsst sie mich, ich erschrecke vor ihr, und ich erschrecke auch vor mir selbst, weil ich mich ein wenig vor ihrem feuchten Mund und den kitzelnden Härchen an ihrer Oberlippe ekle. Komm, sagt sie, du bist müde, lass dich ansehen. Ja, dein Opa.
Omas Haar ist schwarz gefärbt, an der Wurzel zieht das Weiß nach, sie riecht säuerlich wie feuchter Mais und versucht, meine Tasche zu heben. Trinkst du eigentlich Kaffee? fragt sie.
Lass nur, sage ich und trage das Gepäck ins Schlafzimmer. Am Türrahmen kann ich ablesen, wie groß ich am 6. April 1992 gewesen bin: 1,53m. Die ersten Granaten fielen, mein Vater spitzte den Bleistift und rief mich zu sich. Dafür ist noch Zeit, stell dich hier hin. Heute messe ich mich selbst und betrüge auf Zehenspitzen, wie ich damals Vater betrogen habe, um zwei-drei Zentimeter. Knapp über mein Haar ritze ich einen Bleistiftstrich in das Holz des Türrahmens. Aus der Küche riecht es nach Milch. Ich warte, 1,80m groß, zwölf Minuten und trinke warme Milch.
Ich habe Listen gemacht. Das grüne Haus mit dem merkwürdigen Dach ist immer noch ein grünes Haus mit merkwürdigem Dach. Im einzigen großen Fenster ein Bonsai. Auf dem merkwürdigen Dach eine Satellitenschüssel. Das Dach fällt steil und reicht fast zum Boden. Ich spähe durch das Fenster. Mitten im kleinen Zimmer hockt eine junge Frau im Schneidersitz auf einer Bambusmatte. Sie hat die Augen geschlossen. Ihre Hände ruhen, mit den Handflächen nach oben, auf ihren Knien. Daumen und Mittelfinger berühren sich.
Im kleinen Park neben dem Haus steht die alte Lokomotive. Sie wurde restauriert und neu lackiert, ich fahre mit der Hand über ihre Front: glattes, kühles Eisen. Opa Rafik, grau, Lokomotive. Ein älteres Touristenehepaar bittet mich, ein Foto von ihnen vor der Lokomotive zu schießen. Sie tragen Panamahüte. Sie kaufen Andenken aus Holz, die Brücke, die Moschee als Kettenanhänger, einen Mini-Ivo-Andrić: meine Fantasie ist unermesslich.
Ich packe aus. Diabetiker-Kirschmarmelade. Oma Katarina bricht in Gelächter aus, ich esse keine Marmelade, die ich nicht selbst gekocht habe! Sie wickelt das Glas wieder ein und bittet mich, es im Špajz abzustellen. Liste der Geruchsorte. Keller: Erbseneintopf und Kohlen. Der Friedhof in Veletovo: frisch gemähtes Gras. Zorans Tante Desa: Honig. Soldaten: Eisen und Schnaps. Drina: Drina. Špajz, die Speisekammer: Sauerteig und morsches Holz — darin der Brotkasten, die Konserven, der Zucker, das Mehl, die Tüten in Tüten, die Motten, die unergründlichen Schachteln und die verrostete Mausefalle. Hinter einem Regal liegt seit unserer Flucht meine Angel. Die Spule werde ich ölen müssen, der Haken ist verrostet. Oma, rufe ich aus der kleinen Kammer, seit wann essen Mäuse Korken?
Wir gehen jetzt überall Kaffee trinken, sagt Oma und verlässt die Wohnung. Ich habe Respekt vor klugen Mäusen, ruft sie aus dem Treppenhaus.
Kaffee ist für Oma nicht nur ein Getränk, Kaffee ist: die weißen Gardinen der Nachbarin in den Himmel zu loben, weil sie so gut gewaschen sind. Ich trinke den ersten Kaffee meines Lebens mit meiner Großmutter bei Teta Magda im vierten Stock. Ich habe Listen gemacht. Hochhausbewohner. Der Mythos besagt, dass ich meine ersten Schritte in Magdas Arme gemacht habe. Es seien hierzu weder Süßigkeiten notwendig gewesen, noch Pflaumen und Hackfleisch. Mit ihrem langen Hals und der langen Nase sieht Magda wie ein Storch aus. Magda aus dem vierten Stock ist eine müde gewordene mythische Gestalt, sie muss ihren Kopf stützen, weil er von alleine nicht mehr gerade aufsitzen will. Sie legt ihm die Hand unter, was sie gleichzeitig verträumt und erschöpft aussehen lässt. Ihre Wangen sind eingefallen, die dünnen Haare Stränge aus silbrigem Blei. Meine Katarina, sagt Magda, ich könnte alles in Grund und Boden schlafen. Du bist gewachsen, Aleksandar. Sie mustert mich aus grünen Augen.
Sie sehen gut aus, sage ich und weiß nicht, was das soll.
Jaja, sagt Magda und streicht sich eine Bleisträhne aus der Stirn. Du bist mir damals, das weißt du gar nicht mehr, sagt sie, und Oma und ich lehnen uns zurück, weil jetzt mit abgewetzter Stimme der Mythos gesungen wird, du bist mir damals in die Umarmung geschritten, zu mir getrippelt ohne fremden Halt, im Gesicht ein Lachen, dein Erobern begann, hallo, große Welt, ich bin jetzt bereit, entzückt warst du von deiner Kraft, das Gleichgewicht hat dich gefunden, hinein in meinen Arm.
Milomir aus dem ersten Stock macht einen starken Kaffee. Im Krieg, sagt er, war meine größte Sorge, ob mich eine Granate oder ein Sniper trifft, heute habe ich so viele Sorgen, dass ich gar nicht weiß, welche meine größte ist. Pockennarbig, arthritisch, eine qualmende Zigarette hinter dem Rücken haltend, verbeugt er sich und küsst zum Abschied die Hand meiner Großmutter. Katarina, sagt er zur Hand, besuch mich bald wieder.
Nach zwei Schlucken kam schon der Kaffeesatz.
Ich habe Listen gemacht. Kneipen, Restaurants, Hotels. Das Restaurant Mündung an der Mündung von Rzav und Drina mit Blick auf beide Flüsse. Ich erinnere mich an den Kuppelbau mit weitläufiger Terrasse, erinnere mich an die seltenen Abende mit Schnakenstichen und dem schläfrigen Quaken der Frösche, wenn wir nur zu dritt, Vater, Mutter und ich, in der Mündung zu Abend aßen und Musiker an unseren Tisch kamen. Vater faltete einen Geldschein und steckte ihn in das Akkordeon, und der Akkordeonspieler grinste und verneigte sich in Richtung meiner Mutter.
Schutt, Steine, Eisenstangen, verrußte Balken und gebrochene Bretter sind mit dem runden Fundament der Mündung zu einem Kranz verflochten, in dessen Mitte ich jetzt stehe, links auf die Drina sehe, rechts auf den Rzav. Unter der Sohle knirschen die Scherben eines Salzstreuers. Die Frösche quaken.