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Oma Katarina und ich sitzen im Wohnzimmer und sehen uns» Isabella «an. Ich habe heute so viel Kaffee getrunken, ich zittere und kann mir nicht vorstellen, dass ich jemals wieder schlafen kann. Die Telenovela heißt eigentlich anders, Isabella ist die schöne, immer ein bisschen leidende, grundgute Protagonistin. Oma verfolgt täglich drei Telenovelas: die um sechzehn Uhr, die um neunzehn Uhr und Isabella um einundzwanzig Uhr. In der Werbepause spritzt sie sich Insulin, ich kann nicht hinsehen. Sie schiebt ihre Bluse hoch und erzählt von einer Bombe, die unter dem Tisch eines frisch vermählten Paares explodierte, als der Bräutigam die Torte anschnitt. Die Braut und der Hund, der unter dem Tisch an den Füßen des Bräutigams schlief, kamen dabei ums Leben. Dem Hund zimmerte man einen kleinen goldenen Sarg und warf ihn in die Drina. Die Braut beerdigte man in ihrem Hochzeitskleid, aber ohne die Schuhe, denn die waren nur ausgeliehen.

Oma spritzt sich Insulin und atmet laut durch den Mund. Ich kann nicht hinsehen. Ich kann nicht hinhören. Je mehr Geschichten ich kenne, sage ich und stelle den Fernseher lauter, desto weniger kenne ich mich aus.

Oma sieht geradeaus zum Fernseher. Isabella, sagt sie und presst Zeige- und Mittelfinger an den Einstich, darf ihrer Stiefmutter nicht so blind vertrauen.

Man müsste, schreibe ich später in das Als-alles-gut-war-Buch, das ich Oma vor meiner Abfahrt zurückschenken werde, man müsste einen ehrlichen Hobel erfinden, der von den Geschichten die Lüge abraspeln kann und von den Erinnerungen den Trug. Ich bin ein Spänesammler.

Ich habe Listen gemacht. Herr Musikprofessor Popović. Ich klingle an der Tür im vierten Stock, seine Ehefrau Lena macht auf, eine aufwändig gekleidete Dame, das Haar hochgesteckt, goldene Ohrringe und Moschusduft, sie ist ausgehfertig, sie geht nirgendwohin. Ich brauche ihr nichts zu erklären, Katarina, sagt sie und lächelt, hat mir erzählt, dass Sie in der Stadt sind. Kommen Sie!

Herr Popović schaltet den Fernseher aus und erhebt sich, als ich das Wohnzimmer betrete. Er sieht mich neugierig an und reicht mir die Hand. Erst als mich seine Frau vorstellt, erinnert er sich an mich: Aleksandar! Das ist ja eine Überraschung! Nimm Platz, mein Sohn, nimm Platz. Ehrlich gesagt, ich hätte dich fast nicht erkannt.

Wir setzen uns an einen niedrigen Glastisch. Frau Popović verschwindet in der Küche und serviert uns eine Minute später einen übervollen Käseteller, dazu für mich ein Bier, für ihren Mann Wasser und zwei rote Pillen auf einem Silbertablett.

Ja, sagt Herr Popović, ich erinnere mich. In der Studienzeit war ich ja mit deinem Großvater befreundet, später dann auch politisch. Slavko war ein begnadeter Redner, seine Ideen verstanden nur wenige in der Partei, und beinahe niemand hieß sie gut. Es waren also ganz ausgezeichnete Ideen.

Ich nicke und genieße die tiefe, bedächtige Stimme des alten Mannes, seine Unaufgeregtheit, ich sehe in seine hellen Augen, die groß werden, wenn er spricht. Seine Frau setzt sich uns gegenüber, faltet die Hände im Schoß und mustert ihn aufmerksam, als sei er der Gast.

Ohne Slavkos Einsatz, setzt Herr Popović seine kleine Rede fort, wäre zum Beispiel die Stadtbibliothek niemals erweitert worden, und bis heute profitieren die Schulen, ja die ganze Stadt profitiert davon. Wie lange ist das wohl schon her …

Ich spieße einen Käsewürfel auf den Zahnstocher, der Käse ist sehr kalt und schmeckt nach Paprika. In der Wohnung stehen blumenverzierte Schränke und Kommoden, eine große Jugendstil-Lampe, ein Schreibpult aus dunklem Holz, darüber Titos Porträt. Notenbücher und Schallplatten in Regalen, auf dem Boden, überall. In der Ecke das Klavier, daneben ein Grammofon. Ich sehe wieder zu Herrn Popović, er hat die Augen zusammengekniffen und streckt mir die Hand entgegen. Professor Petar Popović, und Sie sind?

Bitte?

Frau Popović räuspert sich. Petar, sagt sie, das ist Aleksandar, Slavkos Enkelsohn.

Slavko Krsmanović? ruft Herr Popović und seine Gesichtszüge erhellen sich, das ist ja eine schöne Überraschung! Sie haben sich ganz schön verändert, Aleksandar! Wissen Sie, Ihr Großvater kam häufig mit Ihnen bei uns vorbei. Wir verstanden uns sehr gut, der Višegrader Cicero und ich. Sie waren da gerade mal … also ich schätze Sie höchstens auf … Herr Popović wird erneut nachdenklich, legt die Hand unter das Kinn. Ich sehe zu seiner Frau, die immer noch lächelt. Es fällt dir ein, Petar, sagt sie leise, es fällt dir ein, nur langsam.

Herr Popović zieht die Augenbrauen zusammen. Lena, sagt er zu seiner Frau, wer ist der Herr?

Aleksandar Krsmanović, übernehme ich dieses Mal, stehe auf und gebe dem alten Mann im grauen Pullunder und mit den akkurat gescheitelten Haaren ein weiteres Mal die Hand. Ich besuche meine Großmutter. Sie haben mir einmal ein Musiklexikon zum Geburtstag geschenkt.

Herr Popović lacht, steht ebenfalls auf und nimmt meine Hand herzlich fest zwischen seine beiden. Natürlich, ruft er, das Lexikon der Weltmusik! Sie sind Slavkos Enkelsohn! Setzen Sie sich doch, setzen Sie sich, Lena, holst du uns bitte Bier, Sie trinken doch Bier?

Gern, sage ich, und Herr Popović blickt mich freundlich an, ein lächelnder Herr zwischen Schallplatten und Notenbüchern. Opa Slavko hatte immer sein Klavierspiel gelobt und ihn als den einzig wahren Intellektuellen der Stadt bezeichnet. Nachdem seine Frau in der Küche verschwunden ist, drückt Herr Popović meine Hand fester und flüstert vertraulich: mein ganzes Leben lang gehe ich mit der Schönheit und der Liebenswürdigkeit meiner Frau so leichtsinnig um wie sonst nur mit der Geschichte und dem Tod.

Herr Popović trinkt einen Schluck Wasser und betrachtet sein Glas aus nächster Nähe, es beschlägt. Herr Popović knöpft die Hemdsärmel auf. Sind nicht echt, sagt er und zeigt auf die goldenen Manschettenknöpfe mit silbernem Violinschlüssel.

Seine schöne Liebenswürdige kommt mit den Bieren zurück ins Wohnzimmer und sieht gerade noch, wie mir ihr Mann die Hand entgegenstreckt und sagt: Petar Popović, mit wem habe ich die Ehre?

Nachdem ich mich vorgestellt habe, steht er auf. Etwas Musik, Herr Krsmanović? fragt er und küsst im Vorbeigehen seine Frau. Bach? Sie kommen mir vor, als würden Sie Johann Sebastian zu schätzen wissen, den hierzulande Unterschätzten.»Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn«, schlägt er vor. Ich bin erfreut, singt er, das Elend dieser Zeit noch von mir heute abzulegen. Pam-ta-tam, singt er, und bleibt vor dem Grammofon stehen, und steht da.

Vielleicht ist es besser so, sagt Frau Popović und nimmt einen Schluck Bier aus der Flasche, man kann sich vor der Erinnerung verstecken und lässt sich von dieser abscheulichen Gegenwart nicht Tag um Tag ohrfeigen.

Herr Popović wendet sich vom Grammofon ab und geht zum Bücherregal. Nach kurzem Überlegen holt er eines der Notenbücher heraus und blättert darin, als suche er eine bestimmte Stelle, pam-ta-tam, singt er.

Die Strecke Zuhause — Oma Katarina: 2349 Schritte. Ich habe Listen gemacht: Schrittdistanzen. Zuhause ist auf der anderen Seite der Drina. Oma schläft noch, schnarcht klaglos, ich könnte sie wecken, um zu fragen, wer überhaupt dort wohnt, aber ich weiß nicht mehr, wie sie am liebsten geweckt wird, und es ist mir unangenehm, dass ich die Antwort auf die Frage nicht selbst weiß.

2250 Schritte sind es heute, und auf dem Türschild heißt es: Miki. Ich stehe auf Beton, der Garten wurde betoniert, wie geht es den Regenwürmern? Ich klingle nicht. Einfach: Miki.

Ich habe Listen gemacht. Unsere Straße. Ich laufe von Haus zu Haus, kenne diesen Balkon, kenne diese Reifenschaukel im Hof, kenne den Geschmack geklauter Mirabellen aus diesem Garten, kenne keinen einzigen Namen auf den Briefkästen bis auf Danilo Gorkis.

Danilo und ich sitzen auf seiner Veranda, der Tisch, der Schaukelstuhl, alles noch so, wie ich es in der Erinnerung an Francesco behalten habe. Der Garten ist verwahrlost, die Kirsche wurde gefällt, die alte Mirela, Danilos Mutter, lebt nicht mehr. Danilo wohnt allein in dem großen Haus, steht jeden Tag um fünf Uhr auf, geht angeln, und wenn er den Fang nicht verkaufen kann, isst er ihn selbst. Seine Gefriertruhe steckt voller Fische. Lieber den ganzen Tag angeln, und nichts am Haken, sagt er, als den ganzen Tag schuften, und nichts in der Tasche. Viele meinen, heutzutage könne man nur glücklich sein, wenn man überhaupt eine Arbeit hat, nicht mal bezahlt müsse sie sein. Ich scheiße auf so ein Glück.