»Und außerdem«, fuhr Trumpkin fort, »wären wir, wenn wir meinen Weg gewählt hätten, sehr wahrscheinlich dem neuen Vorposten direkt in die Arme gelaufen; es wäre uns sonst ebenso schwergefallen, ihn zu umgehen. Mir scheint, dieser Spiegelwasserweg ist gar nicht so übel.«
»Dieser ›gar nicht so üble Weg‹ hat sich gut getarnt«, meinte Suse.
»Und wie er sich getarnt hat!« bekräftigte Edmund. »Vermutlich müssen wir nun in der Schlucht wieder hinaufgehen«, meinte Lucy.
»Lucy, du benimmst dich heldenhaft«, erklärte Peter. »Zum erstenmal machst du eine Bemerkung, und dann sagst du noch nicht einmaclass="underline" ich habe es euch ja gleich gesagt. Also vorwärts.« »Und sobald wir wieder tief im Wald drinstecken«, bemerkte Trumpkin, »mache ich Feuer an und koche ein Abendessen – und wenn ihr euch auf den Kopf stellt. Aber erst müssen wir von hier fort.«
Ich brauche wohl nicht zu beschreiben, wie sehr sie sich abmühten, die Schlucht wieder hinaufzusteigen. Es war eine harte Arbeit, aber seltsamerweise fühlten sich alle erleichtert. Sie hatten neuen Auftrieb bekommen, und das Wort Abendessen wirkte sehr anfeuernd.
Sie erreichten das Kieferngehölz, das ihnen im Tageslicht so viele Mühe gekostet hatte, und lagerten sich in einer Höhlung etwas oberhalb davon. Es war mühsam, das Feuerholz zu sammeln, aber ein großer Augenblick, als das Feuer endlich aufflammte und sie die feuchten und schmierigen Pakete mit Bärenfleisch hervorzogen. Auf jeden, der den Tag in der Stube verbracht hatte, hätten diese Klumpen sicherlich recht abstoßend gewirkt. Der Zwerg entwickelte beim Kochen glänzende Gedanken. Jeder Apfel – sie hatten immer noch einige – wurde in Bärenfeisch eingewickelt – wie ein Apfel im Schlafrock, nur viel dicker und mit Fleisch statt Teig –, auf einen angespitzten Stock gesteckt und dann geröstet. Der Apfelsaft drang durch das Fleisch, und es war wie Schweinebraten mit Apfelsauce. Ein Bär, der vorwiegend andere Tiere gefressen hat, schmeckt nicht sehr gut, aber ein Bär, der von reichlich Honig und Früchten gelebt hat, ist ausgezeichnet, und dieser hier gehört zur letzten Art. Es war ein wahrhaft prächtiges Mahl. Und dann brauchte natürlich nicht abgewaschen zu werden – man lag auf dem Rücken, beobachtete den Rauch aus Trumpkins Pfeife, streckte die müden Beine aus und plauderte. Alle waren nun wieder hoffnungsfroh, daß sie tags darauf König Kaspian finden und Miraz in einigen Tagen besiegen würden. Es mag nicht sehr weise von ihnen gewesen sein, so zu denken, aber sie taten es nun einmal.
Einer nach dem anderen schliefen sie fest ein, und zwar alle ziemlich schnell.
Lucy erwachte aus dem tiefsten Schlaf, den man sich nur denken kann, und hatte das Gefühl, daß die liebste Stimme, die sie kannte, ihren Namen gerufen hatte. Zuerst dachte sie, es sei ihres Vaters Stimme, aber das schien nicht zu stimmen. Dann meinte sie, es könnte Peters Stimme gewesen sein, aber das paßte anscheinend auch nicht. Sie wollte nicht aufstehen – nicht etwa, weil sie noch müde war, im Gegenteil, sie fühlte sich wundervoll ausgeruht, ihr war ungemein behaglich zumute. Sie blickte gerade auf zu dem Mond Narnias, der viel größer als unserer ist, und in den sternenübersäten Himmel, denn der Platz, auf dem die Kinder lagerten, war recht frei. »Lucy«, ertönte wiederum der Ruf, und es war weder ihres Vaters noch Peters Stimme. Sie setzte sich hoch und zitterte vor Aufregung, nicht aus Furcht. Der Mond schien so hell, daß die ganze Waldlandschaft um sie herum fast so klar wie am Tag war, wenn sie auch wilder aussah. Hinter sich hatte sie das Kieferngehölz, etwas entfernt nach rechts die zackigen Spitzen der Klippen auf der anderen Seite der Schlucht, gerade vor sich eine freie Grasfläche, und einen Bogenschuß weiter fort öffnete sich eine Lichtung in den Bäumen. Lucy blickte scharf auf die Bäume, die an dieser Lichtung standen. »So etwas! Ich glaube wirklich, sie bewegen sich«, sagte sie zu sich selbst. »Sie gehen umher.«
Mit wild klopfendem Herzen erhob sie sich und ging zu ihnen hinüber. Es rauschte in der Lichtung, es rauschte so, wie es Bäume im starken Wind tun; dabei war es an diesem Abend gar nicht windig. Und außerdem war es kein gewöhnliches Baumrauschen. Lucy spürte, es lag eine Melodie darin. Doch konnte sie die Melodie so wenig erkennen, wie sie die Worte hatte verstehen können, als in der Nacht zuvor die Bäume nahe daran gewesen waren, zu ihr zu sprechen. Aber es war doch ein Tonfall. Ihre Füße hätten gern getanzt, als sie näher kam. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr, die Bäume bewegten sich wirklich – sie bewegten sich gegeneinander und voneinander fort wie bei einem schwerfälligen, ländlichen Tanz. Es kann sicherlich nur ein sehr ländlicher Tanz werden, wenn Bäume tanzen, dachte Lucy. Jetzt war sie fast zwischen ihnen. Der erste Baum, den sie näher betrachtete, schien auf den ersten Blick gar kein Baum, sondern ein mächtiger Mann mit zottigem Bart und dicken Haarbüscheln zu sein. Sie fürchtete sich nicht; so etwas hatte sie schon früher gesehen. Aber als sie wieder hinblickte, war es nur ein Baum, wenngleich er sich bewegte. Es war natürlich nicht zu erkennen, ob er Füße oder Wurzeln hatte, denn wenn Bäume sich bewegen, so gehen sie nicht auf der Erdoberfläche. Sie waten etwa so in der Erde, wie wir es im Wasser tun. Ebenso war es mit allen anderen Bäumen, auf die ihr Blick fiel. In einem Augenblick schienen sie freundliche, liebenswerte Riesen und Riesinnen zu sein. Sie zeigten Formen, wie die Baumleute sie annehmen, wenn ein guter Zauber sie zu vollem Leben erweckt; im nächsten wirkten sie alle wieder wie Bäume. Aber auch dann, wenn sie Bäumen glichen, sahen sie wie seltsam menschliche Bäume aus. Glichen sie aber Menschen, so sahen sie wie merkwürdig hastige und laubreiche Leute aus, und während der ganzen Zeit hielt das seltsame Rauschen, das raschelnde, kühle, fröhliche Geräusch, an.
»Sie sind fast erwacht, aber nicht ganz«, sagte Lucy. Von sich selbst wußte sie, daß sie hellwach war, viel wacher, als man gewöhnlich ist. Furchtlos ging sie zwischen ihnen umher. Auch sie tanzte, während sie bald hierhin, bald dorthin hüpfte, um von den gewaltigen Mittänzern nicht angerannt zu werden. Aber sie war nicht ganz bei der Sache. Sie wollte hinter den Bäumen zu etwas anderem gelangen, denn von weiter her, von hinter den Bäumen, hatte jene liebe Stimme gerufen.
Allmählich gelangte sie hindurch. Dabei war sie sich selbst nicht klar darüber, ob sie ihre Arme gebraucht hatte, um die Zweige beiseite zu schieben, oder ob sie ihre Hände gereicht hatte, um in der langen Kette der großen Tänzer mitzumachen, die sich zu ihr niederbeugten. Die Bäume bildeten um eine freie Mitte einen Kreis, und Lucy trat aus dem wechselnden Durcheinander hübscher Lichter und Schatten in diesen Kreis hinein. Ihre Augen ruhten auf dem runden Grasplatz, der glatt wie ein Rasen war und um den die dunklen Bäume tanzten. Und dann – o Freude! Dort stand er, der riesige Löwe. Weiß schien er im Mondlicht, und große, schwarze Schatten warf er unter sich. Hätte er nicht den Schwanz bewegt, man hätte meinen können, es sei ein steinerner Löwe. Aber so dachte Lucy nicht. Sie dachte nicht einmal darüber nach, ob es ein freundlicher Löwe sei oder nicht. Sie rannte auf ihn zu. Ihr Herz – das fühlte sie – würde bersten, wenn sie nur einen Augenblick versäumte. Und alles, was sie dann wußte, war, daß sie ihn küßte, daß sie ihre Arme, soweit es nur möglich war, um seinen Nacken schlang und daß sie ihr Gesicht in der wundervollen, mächtigen Seidenweiche seiner Mähne verbarg. »Aslan, Aslan. Lieber Aslan«, schluchzte Lucy. »Endlich!« Das große Tier rollte sich auf eine Seite, so daß Lucy halb sitzend und halb liegend zwischen seine Vordertatzen fiel. Er beugte sich vor und berührte ganz leicht ihre Nase mit seiner Zunge. Sein warmer Atem hüllte sie ein. Sie schaute in das große, kluge Antlitz.
»Willkommen, Kind«, sagte er. »Aslan«, sagte Lucy, »du bist größer geworden.« »Das kommt dir nur so vor, weil du älter bist, mein Kleines«, antwortete er. »Nicht, weil du größer bist?«