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Und die Visionen kamen – eine Flut von Bildern, die flackerten und sich wandelten und ineinander übergingen in ihrer Hast, sich zu offenbaren.

Die kalte und tödliche Schönheit der Schneekönigin – das ausgezehrte Gesicht des Dunklen, mit Augen aus brennendem Stein – und die ganze Welt in Ketten zu ihren Füßen …

Der Wald jenseits der Berge. Ein einsamer Turm, fast vollständig zerstört, und die magere, flinke Gestalt eines rennenden Wolfes. Die hellen Mächte – eine hochgewachsene Frau mit flammend rotem Haar, ihr Bauch gewölbt über einem Kind; der blauäugige Mann, der nie von ihrer Seite wich – und hinter ihnen, nur halb sichtbar, die Erscheinung eines Kriegers, der schützend über ihnen schwebte …

Noch ein Wald, noch weiter nördlich. Ein Wald, der in Chiamh ein widersprüchliches Gewirr aus Furcht und Sehnsucht weckte und die schmerzliche Qual von Trennung und Verlust. Ein feuriges Schwert, eingeschlossen in Kristall, das das Ende des Bösen bedeutete – und die Vernichtung der Xandim …

Ein Gesicht, einsam und schmal, mit knochiger Nase und hohen Wangenknochen; zu jung für das Silber, das das dunkle Haar durchzog und das verschlagene Glitzern überschatteter, grauer Augen widerspiegelte. Es war das Gesicht eines Schurken, eines ewig Unzufriedenen, eines Unruhestifters das Gesicht von Schiannath, dem Außenseiter, der es vor einigen Monaten tatsächlich gewagt hatte, den Rudelfürst Phalihas herauszufordern und mit ihm um die Führung zu kämpfen. Chiamh hatte keine Ahnung, wo er jetzt war. Sein Scheitern hatte die Verbannung aus seinem Stamm bedeutet, und er war in die Berge verschwunden, zusammen mit seiner Schwester Iscalda – was Phalihas ganz besonders erzürnt hatte, da das Mädchen die Verlobte des Rudelfürsten gewesen war.

»Schiannath?« Der Spiegel kräuselte sich und bewölkte sich, als Chiamh vor Überraschung beinahe die Kontrolle über seine Vision verlor. Schiannath hatte mit dieser Sache zu tun? »O liebliche Göttin«, murmelte das Windauge, »was im Namen deiner Gnade kann er damit zu tun haben?« Mit einiger Mühe bekam er das Bild wieder klar – und sah die Frau wieder, ihr Haar ein flammendes Banner, ihr Körper eingehüllt in eine strahlende Aura aus Magie. Der Dunkle streckte die Hand aus, um sie zu ergreifen, aber die Vision von Schiannath lag wie eine Schranke zwischen ihnen. Die Frau streckte die Hand aus, um das Schwert zu ergreifen und die Xandim zu zerstören …

»Nein!« schrie Chiamh. Der Spiegel löste sich zwischen seinen Fingern in Nebel auf, und das Windauge brach direkt am Abgrund seines Horsts zusammen, ungeachtet der tödlichen Tiefe. Für seine Andersicht war die Bedeutung der Vision grausam klar. Nur die hellen Mächte konnten dem herannahenden Bösen zuvorkommen – aber auf Kosten des gesamten Volkes der Xandim.

Der Seher rang mit den widersprüchlichen Möglichkeiten, aber in welche Richtung seine Gedanken sich auch wandten, er stand immer wieder vor der unausweichlichen Wahrheit – ob die bösen Mächte Erfolg hatten oder nicht, die Xandim waren dem Untergang geweiht. Das Windauge senkte den Kopf und wandte sich mit tränenüberströmtem Gesicht nach Norden, um seinen Blick über das Herzland seines Volks streifen zu lassen.

Er hatte vergessen, daß die Andersicht ihn noch immer in ihrem Bann hielt. Chiamhs Körper versteifte sich, zurückgelassen am Rande der Plattform, während sein Bewußtsein auf den Schwingen seiner Andersicht entfloh; wie ein Pfeil schoß es das Tal hinunter und einen Pfad aus Silber entlang in die Richtung, in der die Quelle seiner Vision lag. Es folgte dem kristallenen Lauf des vereisten Stroms und eilte über die schneebedeckten Wiesen des Plateaus, die breiten, flachen Stufen des Klippenpfads hinunter, an dem durchscheinend funkelnden Vorhang des gefrorenen Wasserfalls entlang und über den ausgetretenen Weg, der um die Klippen herumführte, bis … bis …

»Bei Iriana von den Tieren!« rief Chiamh erstaunt aus. Dort, auf dem Wege zu den gewaltigen Mauern der Xandimfestung, sah er die Gefangenen. Fremde von jenseits des Meeres! Ein Mann und eine Frau, die ihren Gewändern nach Krieger sein mußten; ein silberhaariger alter Herr, der sich verbissen an sein Leben klammerte … und die andere. Bei der Göttin, die andere! Sie war eine der Mächte – aber ob hell oder dunkel konnte Chiamh nicht sagen. Ihr Verstand war durch ein bewölktes Labyrinth des Wahnsinns vor seiner Andersicht verborgen.

Das Windauge spürte, daß diese Fremden irgendwie mit den hellen Mächten verbunden waren. Und er wußte mit grausamer Sicherheit, daß sie als Eindringlinge in das Land der Xandim unweigerlich hingerichtet werden würden. Aber sie durften nicht sterben, sonst waren die Hellen verloren. Die Vision befahl ihm, sie zu retten!

Aber das war leichter gesagt als getan. Wie sollte er den Rudelfürst überreden? Chiamh wußte, daß er es nicht geschafft hatte, den Respekt zu erringen, den seine Großmutter besessen hatte. Sie hatte den Vorteil ehrwürdigen Alters gehabt. Das Windauge zog eine Grimasse. Seine Großmutter war nicht immer alt gewesen, aber sie hatte sich im Kampf gegen die plündernden Khazalim als großartige Kriegerin erwiesen. Er hatte das nie getan und würde es auch nie tun – die Kurzsichtigkeit seiner normalen Augen machte das unmöglich. Bevor er einen Freund erblickt hätte, wäre er bereits tot. Sieh den Dingen ins Auge, Chiamh, dachte er. Du bist das Gespött der Leute – und darum versteckst du dich in deinem Tal, lebst in einer Höhle wie ein Einsiedler. Sie werden dir nie glauben – sie werden sich über dich lustig machen, wie sie es schon so oft getan haben.

Nichtsdestotrotz mußte er es versuchen – und er hatte keine Zeit zu verlieren. Das Hellerwerden des Himmels, das zwischen den dahinjagenden Wolken kaum erkennbar war, sagte Chiamh, daß die Morgendämmerung herannahte. Also unterdrückte das junge Windauge seine Zweifel und kletterte mit steifen Gliedern den Turm hinunter. Während seine Andersicht langsam verblaßte und seine eigene Kurzsichtigkeit zurückkehrte, stolperte Chiamh fast über seine eigenen Füße und schürfte sich dabei schmerzhaft die Haut auf. Ein oder zwei Meter über dem Erdboden verlor er den Halt und landete, außer Atem und mit blauen Flecken, auf einem Haufen Schotter. Ohne abzuwarten, bis sein Atem wieder ruhiger ging, raffte er sich auf und stürmte das Tal hinunter, taumelte und stolperte und stand wieder auf, nur um erneut über Steine und Wurzeln zu fallen und auf den Schneewehen auszugleiten, die der Wind aufgehäuft hatte. Aber er ging immer weiter, angetrieben von tiefster Entschlossenheit. Er mußte den hellen Mächten helfen. Er mußte rechtzeitig ankommen, um die Fremden zu retten. Während die vergessenen Fetzen seines Schneemantels hinter ihm herflatterten, rannte Chiamh, wie er es noch nie zuvor gewagt hatte zu rennen.

Das Windauge passierte am anderen Ende des Tals die hohen Steine, die den Ausgang des Waldes bildeten. Das weiche, einladende Gras des Plateaus war eine süße Verlockung, und er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Nun mußte er sich keine Sorgen mehr darüber machen, daß er sich auf dem unebenen Boden ein Bein brechen könnte – auf dem Plateau konnte er sich endlich frei bewegen. Chiamh blieb im Schatten der großen Steine stehen und sammelte sich, um sein Bewußtsein nach innen zu richten. Dann – veränderte er sich.

Für einen Beobachter, das wußte, er, hätte die Verwandlung nur Sekunden gedauert. Für Chiamh schien die Zeit sich in die Länge zu ziehen, genauso wie es sein Körper tat; seine Knochen und Muskeln nahmen eine prickelnde Biegsamkeit an, während sie länger wurden, dicker und stärker. Es war ein Augenblick nebelhafter Verwirrung, ebensowenig wahrnehmbar wie der Moment zwischen Wachen und Schlafen – und im Windschatten der Bäume, die einen Augenblick zuvor noch einen jungen Mann verborgen hatten, stand plötzlich ein rotbraunes Pferd mit zotteliger Mähne.

Chiamh stampfte auf den Boden und genoß die Kraft seine Pferdeleibs, den Reichtum der Düfte, der um ihn herumwirbelte. Er stellte seine Ohren auf, lauschte dem Zischen des Windes über das schneebedeckte Gras des Plateaus und dem Knirschen der Zweige weiter hinten im Wald. Sein Augenlicht blieb unglücklicherweise auch in seiner Andergestalt unverändert schlecht – es hatte weniger räumliche Tiefe, dafür einen größeren Gesichtskreis als der eines Menschen, aber er sah die Dinge genauso verschwommen wie immer. In seiner Pferdegestalt hatte er jedoch zumindest andere Sinne, die diesen Mangel in gewissem Maße ausgleichen konnten.