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Er hatte das Geld bei sich und überreichte es mir: eine beträchtliche Summe in Königlich-Karhidischen- Handelskreditnoten, die mich nicht inkriminieren, mich aber auch nicht hindern konnten, sie einfach auszugeben.

»Wenn Sie ihn finden…«Er stockte.

»Eine Nachricht?«

»Nein. Nur, wenn ich wüßte…«

»Wenn ich ihn finde, werde ich versuchen, Ihnen eine Nachricht zukommen zu lassen.«

»Danke«, sagte er und streckte mir beide Hände entgegen — eine Freundschaftsgeste, die Karhider nur sehr selten machen.»Ich wünsche Ihnen Erfolg mit Ihrer Mission, Mr. Ai. Er — Estraven — hat fest daran geglaubt, daß Sie hierhergekommen sind, um Gutes zu wirken, das weiß ich. Er hat von ganzem Herzen daran geglaubt.«

Für diesen jungen Mann gab es auf der ganzen Welt nichts außer Estraven. Er gehörte zu denjenigen, die dazu verdammt sind, nur einmal zu lieben. Ich fragte ihn noch einmaclass="underline" »Wollen Sie ihm denn gar nichts ausrichten lassen?«

»Sagen Sie ihm, daß es den Kindern gutgeht«, erwiderte er nun zögernd. Und dann: »Nusuth, unwichtig.«Er ging.

Zwei Tage später verließ ich Erhenrang — dieses mal auf der Nordweststraße und zu Fuß. Meine Einreiseerlaubnis für Orgoreyn war weit eher eingetroffen als ich es nach dem Verhalten der Angestellten und Beamten der Orgota-Botschaft erwartet hatte, ja als sie es selber anscheinend erwartet hatten; als ich die Papiere abholen wollte, behandelten sie mich mit einem gewissen giftigen Respekt, wohl weil man auf Veranlassung irgendeiner einflußreichen Persönlichkeit das Protokoll und sämtliche Vorschriften meinetwegen einfach beiseitegeschoben hatte. Da es in Karhide überhaupt keine Vorschriften über das Verlassen des Landes gibt, machte ich mich augenblicklich auf den Weg. Während des Sommers hatte ich gelernt, wie angenehm es sein kann, in Karhide zu wandern. Straßen und Gasthäuser sind nicht nur für Motorfahrzeuge, sondern auch für den Fußverkehr eingerichtet, und wo es einmal kein Gasthaus gibt, kann man sich getrost auf das Gesetz der Gastfreundschaft verlassen. Die Bewohner der Co-Domänen, die Dörfler, Farmer und Domänenherren gewähren jedem Reisenden Nahrung und Unterkunft: drei Tage lang nach dem Gesetz, in der Praxis jedoch viel länger. Und was das beste ist: Man wird überall ohne Aufhebens empfangen und willkommen geheißen, als wäre man schon erwartet worden.

Auf Schlängelpfaden zog ich durch das herrliche, sanft ansteigende Land zwischen Sess und Ey, nahm mir viel Zeit und arbeitete auch wohl einmal für mein Essen auf den Feldern der großen Domänen, wo gerade die Ernte eingebracht und jede Hand, jedes Werkzeug und jede Maschine gebraucht wurde, damit die goldenen Felder geschnitten werden konnten, bevor das Wetter umschlug. Sie war ganz und gar golden, ganz und gar freundlich, diese Woche meiner Wanderung, und des Abends, bevor ich schlafen ging, trat ich noch einmal aus dem dunklen Bauernhaus oder der vom Feuer erleuchteten Herdhalle, wo ich untergebracht war, in die Nacht hinaus, um ein stückweit über die trockenen Stoppeln zu wandern und zu den Sternen hinaufzuschauen, die in der windgefegten Herbstdunkelheit wie ferne Städte leuchteten.

Es fiel mir tatsächlich schwer, dieses Land zu verlassen, das zwar dem Gesandten gegenüber so gleichgültig, dem Fremden gegenüber jedoch so freundlich war. Ich mochte nicht noch einmal von vorn anfangen, noch einmal versuchen, meine Botschaft wieder in einer neuen Sprache neuen Zuhörern zu erläutern, um dann vielleicht noch einmal zu versagen. So wanderte ich mehr nach Norden als nach Westen und rechtfertigte diesen Kurs mit meinem Wunsch, das Sinoth-Tal, den Schauplatz der Rivalität zwischen Karhide und Orgoreyn, zu sehen. Obgleich das Wetter immer noch schön blieb, wurde es langsam kälter, und schließlich drehte ich, noch ehe ich Sassinoth erreichte, nach Westen ab, weil mir nämlich eingefallen war, daß dort ein Zaun die Grenze bildete und ich an dieser Stelle womöglich nicht so einfach aus Karhide hinauskam. Hier dagegen bildete der Ey die Grenze, ein schmaler, aber wilder Fluß, und, wie alle Flüsse des Großen Kontinents, von einem Gletscher gespeist. Auf der Suche nach einer Brücke, marschierte ich wieder mehrere Meilen nach Süden zurück, und fand schließlich eine, die zwei kleine Dörfer verband: Passerer auf der Karhide-Seite und Siuwensin in Orgoreyn. Verschlafen starrten sie einander über den Ey hinweg an.

Der Karhidische Brückenwärter fragte mich lediglich, ob ich beabsichtige, noch in dieser Nacht zurückzukehren, und winkte mir dann, ich könne hinübergehen. Auf der Orgota-Seite wurde ein Inspektor herausgerufen, der meinen Paß und meine Papiere inspizierte und dafür eine ganze Stunde benötigte — eine karhidische Stunde! Er zog meinen Paß ein, erklärte mir, ich könne ihn mir am nächsten Morgen abholen, und gab mir dafür ein Permiso für Mahlzeiten und Unterkunft im Commensal-Passantenhaus von Siuwensin. Eine weitere Stunde verbrachte ich im Büro des Verwalters dieses Passanten-Hauses, während der Verwalter meine Papiere prüfte und sich per Telefongespräch mit dem Inspektor der Commensal-Grenzstation, von der ich gerade kam, von der Echtheit meines Permiso überzeugte.

Es ist mir unmöglich, das Orgota-Wort, das hier als ›Commensal‹, ›Commensalität‹ wiedergegeben wird, präzise zu definieren. Seine Wurzel ist ein Wort, das ›zusammen essen‹ bedeutet. Es wird auf alle nationalen, beziehungsweise Regierungsinstitutionen von Orgoreyn angewendet, vom Staat als Ganzheit über die dreiunddreißig Substaaten oder Distrikte, aus denen er besteht, bis zu den Sub-Substaaten, den Stadtgemeinden, den Kommunalfarmen, Minen, Fabriken und so weiter, aus denen wiederum jene bestehen. Als Adjektiv wird es für alle oben genannten Institutionen benutzt. In der Form ›die Commensalen‹ bezieht es sich gewöhnlich auf die dreiunddreißig Distriktdirektoren, die die Regierung, die Exekutive und Legislative, der Großcommensalität Orgoreyn bilden, kann sich aber auch auf die Bürger, das Volk selbst beziehen. In dieser fehlenden Unterscheidung zwischen der allgemeinen und der spezifischen Anwendung des Wortes, in dem Gebrauch desselben für sowohl das Ganze als auch dessen Teile, für den Staat und das Individuum, in dieser Ungenauigkeit liegt seine präziseste Bedeutung.

Endlich wurden meine Papiere wie auch meine Anwesenheit akzeptiert und ich erhielt zur vierten Stunde die erste Mahlzeit seit dem Frühstück — das Abendessen: kadik-Brei und kalte Brotapfelscheiben. Trotz seines großen Aufgebots von Beamten war Siuwensin ein kleiner, primitiver Ort, der schon tief im ländlichen Winterschlaf versunken war. Das Commensal-Passantenhaus war kürzer als sein Name. Der Speiseraum hatte nur einen Tisch, fünf Stühle und kein Feuer; das Essen wurde von der Garküche des Dorfes herübergebracht. Der zweite Raum war der Schlafsaaclass="underline" sechs Betten, eine Menge Staub und etwas Meltau. Ich hatte ihn für mich allein. Da alle Bewohner von Siuwensin anscheinend gleich nach dem Essen zu Bett gegangen waren, tat ich das gleiche. Umgeben von dieser ganz eigenen ländlichen Stille, in der einem die Ohren rauschen, schlief ich ein. Ich schlief eine Stunde und erwachte in den Klauen eines Alptraums von Gewalt, Explosionen, Totschlag, Geschrei und Feuer.

Es war ein unglaublich scheußlicher Traum, von der Art, in denen man mit zahllosen anderen Leuten, die keine Gesichter haben, im Dunkeln eine unbekannte Straße entlangläuft, während hinter einem Häuser in Flammen aufgehen und Kinder schreien.

Ich fand mich auf freiem Feld wieder, einem Stoppelacker, unter einer schwarzen Hecke. Durch die Wolken am Himmel schimmerten der mattrote Halbmond und einige Sterne. Der Wind war bitter kalt. Neben mir ragte eine große Scheune oder ein Kornspeicher in die Nacht, und in der Ferne dahinter sah ich im Wind kleine Funkenbündel aufstieben.

Ich stand da, barfuß, im Hemd, ohne Kniehose, Hieb oder Mantel; aber ich hatte mein Bündel bei mir, und das enthielt nicht nur Reservekleidung, sondern darüber hinaus meine Rubine, mein Bargeld, meine Dokumente, meine Papiere und meinen Ansible. Auf Reisen benutze ich es stets als Kopfkissen. Anscheinend lasse ich es nicht einmal in meinen Träumen aus der Hand. Ich holte Schuhe, Hose und meinen pelzgefütterten Winterhieb heraus und zog mich in der kalten, dunklen Stille der Landschaft an, während eine halbe Meile hinter mir Siuwensin verbrannte. Dann machte ich mich auf die Suche nach einer Straße und fand auch eine, auf der außer mir noch andere Menschen zogen — Flüchtlinge wie ich, nur, daß sie wußten, wohin sie gingen. Ich folgte ihnen, denn ich hatte kein festes Ziel — nur den Wunsch, nicht nach Siuwensin zurückzukehren, das, wie ich aus ihren Bemerkungen während des Marsches schloß, Ziel eines Überfalls von Passerer auf der anderen Seite der Brücke gewesen war.