Der letzte Satz entlockte Obsle ein Grinsen, ein stilles, zustimmendes Grinsen, das mich veranlaßte, meine Einschätzung dieses Mannes rasch zu revidieren.
»Einige Kulte behaupten, daß sich diese Zwischenstationen nach dem Tod tatsächlich, physisch auf anderen Welten, auf anderen Planeten des realen Universums befinden, die sie offenbar schon besucht haben. Sind Sie dieser Auffassung schon einmal begegnet, Mr. Ai?«
»Nein. Man hat mich zwar schon auf die mannigfaltigste und kurioseste Art und Weise beschrieben, aber noch niemand hat versucht, aus mir einen Geist zu machen.«Beim Sprechen blickte ich zufällig nach rechts, und als ich ›Geist‹ sagte, sah ich einen. Dunkel, in dunkler Kleidung, stumm und schattenhaft, saß er neben mir: das Phantom an der Festtafel.
Obsle wurde von seinem anderen Nachbarn ins Gespräch gezogen, die meisten übrigen Gäste hörten zu, was Slose am Kopfende des Tisches sagte.»Ich hatte nicht erwartet, Sie hier zu finden, Lord Estraven«, murmelte ich.
»Das Unerwartete erst macht das Leben möglich«, gab er zurück.
»Man hat mir eine Botschaft für Sie anvertraut.«
Er sah mich fragend an.
»In Form einer Geldsumme. Ihr eigenes Geld. Foreth rem ir Osboth schickt es Ihnen. Ich habe es bei meinen Sachen, im Haus von Shusgis. Ich werde dafür sorgen, daß Sie es bekommen.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mr. Ai.«
Er gab sich still, verhalten, bescheiden — ein Verbannter, der in der Fremde einzig von seinem Verstand leben muß. Er schien nicht geneigt, sich mit mir zu unterhalten, und ich war froh, daß ich mich nicht mit ihm unterhalten mußte. Und dennoch drängte sich mir seine Anwesenheit während dieser langen, schwierigen, redseligen Party immer wieder auf — drängte sich mir auf, obgleich ich meine ganze Aufmerksamkeit diesen komplizierten, mächtigen Orgota zuwandte, die entweder meine Freunde sein oder mich ausnutzen wollten. Er drängte sich mir auf; er, sein Schweigen, sein abgewandtes Gesicht. Und so sehr ich mich auch bemühte, diesen Gedanken als unbegründet beiseite zu schieben, ging es mir immer wieder durch den Sinn, daß ich nach Mishnory nicht aus freien Stücken gekommen war, um mit den Commensalen gebratenen Schwarzfisch zu essen, und daß auch sie mich nicht von selber hierher geholt hatten. Nein, das war sein, Estravens Werk.
NEUNTES KAPITEL
Estraven, der Verräter
Eine ostkarhidische Erzählung, erzählt in Gorinhering von Tobord Chorhawa, aufgezeichnet von G. A. Die Geschichte ist überall in verschiedenen Versionen bekannt, und die fahrenden Schauspieler östlich des Karvag haben ein ›habben‹-Spiel über das Thema in ihrem Repertoire.
Vor langer Zeit, noch vor den Tagen König Argavens I. der Karhide zu einem Königreich zusammenfaßte, gab es eine Blutfehde zwischen der Domäne Stok und der Domäne Estre im Kerm-Land. Diese Fehde wurde seit drei Generationen mit Überfällen und Hinterhalten ausgefochten, und es gab keine Möglichkeit, sie beizulegen, denn sie stritten um ein Stück Land. Gutes Land aber ist rar in Kerm, jede Domäne ist stolz auf die Länge ihrer Grenzen und die Herren des Kerm-Landes sind stolze Männer, nachtragende Männer, die schwarze Schatten werfen.
Nun begab es sich, daß der leibliche Sohn des Herrn von Estre, ein junger Mann, im Monat Irrem bei der Jagd auf Pesthry mit seinen Skiern über den Eisfußsee kam, auf schlechtes Eis geriet und ins Wasser fiel. Indem er einen Ski an einer festeren Eiskante als Hebel ansetzte, konnte er sich schließlich aus dem Wasser ziehen, aber seine Lage auf dem Eis war fast ebenso schlecht wie im Wasser, denn er war völlig durchnäßt, die Luft war kurem (feucht, minus 18 bis minus 30 Grad Celsius), und die Nacht brach herein. Er sah keine Möglichkeit, Estre zu erreichen, das acht Meilen weit bergauf von dieser Stelle lag, und machte sich also zum Dorf Ebos an der Nordküste des Sees auf den Weg. Als die Nacht kam, zog Nebel vom Gletscher herüber und legte sich über den ganzen See, so daß er den Weg nicht erkennen konnte und nicht wußte, wohin er seine Skier setzte. Langsam lief er, aus Angst vor dem schlechten Eis, und dennoch in Eile, denn die Kälte nagte an seinen Knochen, und nicht lange, dann würde er sich nicht mehr bewegen können. Endlich sah er vor sich in der Nacht und dem Nebel ein Licht. Er legte die Skier ab, denn das Seeufer war uneben und an einigen Stellen nicht schneebedeckt. Seine Beine wollten ihn nicht mehr tragen, aber er schleppte sich, so gut es ging, dem Licht entgegen. Er war weit von dem Weg nach Ebos abgekommen. Das Licht gehörte zu einem kleinen Haus, das ganz allein in einem Wald von Thore-Bäume stand — den Bäumen, aus denen alle Wälder im Kerm-Land bestehen -, und die Bäume wuchsen dicht um das Haus und waren nicht höher als das Dach. Er schlug mit den Händen an die Tür und begann laut zu rufen, und dann öffnete jemand die Tür und holte ihn ins Licht des Feuers herein.
Es war niemand sonst in der Hütte, nur dieser eine Mann. Er nahm Estraven die Kleider ab, die vor Eis starrten, als wären sie aus Eisen, steckte ihn nackt zwischen Pelze und vertrieb mit seiner Körperwärme die Erfrierungen aus Estravens Füßen, Händen und Gesicht. Dann gab er ihm heißes Bier zu trinken. Zuletzt erholte sich der junge Mann und betrachtete den anderen, der sich um ihn gekümmert hatte.
Es war ein Fremder, jünger noch als er selbst. Sie sahen einander an. Sie waren beide schön, kräftig gewachsen mit edlen Zügen, fein und dunkel. Estraven erkannte das erste Feuer der Kemmer in den Augen des anderen.
»Ich bin Arek von Estre«, sagte er.
»Ich bin Therem von Stok«, sagte der andere.
Da lachte Estraven, denn er war noch sehr schwach, und fragte:»Hast du mich mit deiner Wärme ins Leben zurückgeholt, um mich zu töten, Stokven?«
»Nein«, antwortete der andere.
Er streckte die Hand aus und berührte Estravens Hand, als wolle er sich vergewissern, daß der Frost tatsächlich verschwunden war. Bei dieser Berührung fühlte Estraven auch in sich selbst das Feuer erwachen, obwohl er noch ein oder zwei Tage von seiner Kemmerzeit entfernt war. So blieben sie beide eine Weile ganz still sitzen, während nur ihre Hände einander berührten.
»Sie sind genau gleich«, sagte Stokven und legte zum Beweis seine Handfläche an Estravens: Ihre Hände glichen sich in Größe und Form, Finger um Finger, wie die beiden Hände eines einzelnen Mannes, Fläche an Fläche gelegt.
»Ich habe dich noch nie gesehen«, sagte Stokven.»Wir sind Todfeinde.«Er stand auf, legte Holz im Herd nach und kehrte zu Estraven zurück.
»Wir sind Todfeinde«, bestätigte Estraven.»Aber ich würde dir Kemmering schwören.«
»Und ich dir«, sagte der andere. Dann schworen sie einander Kemmering. Im Kerm-Land darf heute und durfte damals ein Treueschwur niemals gebrochen, niemals einem zweiten Menschen geschworen werden. Sie verbrachten die Nacht und den folgenden Tag und die darauf folgende Nacht in der Hütte im Wald bei dem zugefrorenen See. Am Morgen darauf kam eine Gruppe Männer aus Stok an die Hütte. Einer von ihnen kannte den jungen Estraven vom Ansehen. Er sagte kein Wort und warnte ihn nicht, sondern zog sein Messer und stach Estraven vor Stokvens Augen in den Hals und in die Brust, daß der junge Mann sterbend an seinem Blute über den kalten Herd niedersank.
»Er war der Erbe von Estre«, erklärte der Mörder.
»Legt ihn auf euren Schlitten und bringt ihn nach Estre, damit er begraben wird«, befahl Stokven.
Er kehrte nach Stok zurück. Die Männer zogen mit dem toten Estraven auf ihrem Schlitten davon, aber sie ließen den Leichnam tief im Thore-Wald den wilden Tieren zum Fraße liegen und kamen noch in derselben Nacht nach Stok zurück. Therem trat vor seinen leiblichen Erzeuger, Lord Harish rem ir Stokven, und sprach zu den Männer:»Habt ihr getan, was ich euch befohlen habe?«Sie antworteten:»Ja.«Therem sagte:»Ihr lügt, denn ihr wäret niemals lebendig von Estre zurückgekehrt. Diese Männer haben meine Befehle mißachtet und gelogen, um ihren Ungehorsam zu verbergen. Ich bitte dich, sie zu verbannen.«Lord Harish gewährte dem Sohn die Bitte, und die Männer wurden aus dem Herd und aus dem Gesetz gejagt.