Bald darauf verließ Therem seine Domäne, weil er, wie er sagte, eine Zeitlang in der Festung Rotherer einwohnen wollte, und kehrte erst nach Stock zurück, als ein ganzes Jahr vergangen war.
Nun suchte man aber in der Domäne Estre in den Bergen und auf der Ebene nach Arek und begann, als man ihn nicht fand, um ihn zu trauern: bitter zu trauern, den ganzen Sommer und Herbst hindurch, denn er war das einzige leibliche Kind des Herrn gewesen. Gegen Ende des Monats Thern jedoch, als der Winter schwer über dem Land lag, kam ein Mann auf Skiern den Berg herauf und gab dem Hüter des Estre-Tores ein in Pelze gewickeltes Bündel.»Dies ist Therem, der Sohnessohn Estres«, sagte der Mann. Dann jagte er wie ein Kiesel, der über die Wellen hüpft, auf seinen Skiern wieder den Berg hinab, und war verschwunden, ehe nur jemand daran dachte, ihn zurückzuhalten.
In dem Pelzbündel lag ein neugeborenes Kind, das weinte. Sie brachten das Kind zu Lord Sorve hinein und berichteten ihm des Fremden Worte; und der alte Lord sah in dem Säugling voll Trauer seinen Sohn Arek. Er befahl, das Kind als Sohn des Inneren Herdes aufzuziehen und es Therem zu nennen, obgleich dieser Name noch niemals vom Estre-Clan benutzt worden war.
Das Kind wuchs heran, schön, edel und stark; es war dunkel und schweigsam, doch alle erkannten in ihm eine Ähnlichkeit mit dem verlorenen Arek. Als der Knabe herangewachsen war, ernannte ihn Lord Sorve im Eigensinn des hohen Alters zum Erben von Estre. Da gab es böses Blut unter Sorves Kemmeringsöhnen, starken Männern im besten Alter, die lange schon auf den Lordtitel warteten. Sie legten sich in den Hinterhalt, als einmal der junge Therem im Monat Irrem ganz allein pesthry jagen ging. Aber er war bewaffnet und nicht unvorbereitet. Im dichten Nebel, der bei Tauwetter über dem Eisfuß-See liegt, erschoß er zwei seiner Herdbrüder, mit einem dritten kämpfte er mit dem Messer und tötete schließlich auch ihn, obgleich er selbst tiefe Schnittwunden an Brust und Hals hatte. Dann stand er im Nebel über dem Eis bei seines Bruders Leichnam und sah, daß die Nacht hereinbrach. Das Blut floß aus seinen Wunden, so daß ihn eine Schwäche überfiel und er beschloß, zum Dorf Ebos zu gehen, um dort Hilfe zu suchen. Im Dunkeln aber ging er in die Irre und kam in den Thore- Wald an der Ostküste des Sees. Dort sah er eine verlassene Hütte, trat ein und fiel, weil er zu schwach war, ein Feuer zu machen, über die kalten Steine des Herdes. So blieb er mit unverbundenen Wunden liegen.
Da kam einer aus der Nacht, ein Mann, ganz allein. Er blieb an der Türe stehen und starrte stumm den Mann an, der in seinem Blut über den Herdsteinen lag. Dann trat er eilig ein, machte aus Pelzen, die er aus einer alten Truhe nahm, ein Bett, legte ein Feuer, säuberte Therems Wunden und verband sie. Als er merkte, daß ihn der junge Mann ansah, sagte er zu ihm:»Ich bin Therem von Stok.«
»Ich bin Therem von Estre.«
Nun herrschte eine Weile Schweigen zwischen ihnen. Dann lächelte der junge Mann und sagte:»Hast du meine Wunden verbunden, um mich zu töten, Stokven?«
»Nein«, antwortete der ältere.
Estraven fragte:»Wie kommt es, daß du, der Herr von Stok, hier draußen allein auf umstrittenem Boden bist?«
»Ich komme oft hierher«, erwiderte Stokven.
Er prüfte des jungen Mannes Puls und Hand, ob er Fieber habe, und legte ganz kurz seine Handfläche an Estravens; die beiden Hände glichen sich in Größe und Form, Finger um Finger, wie die beiden Hände eines einzelnen Mannes, Fläche an Fläche gelegt.
»Wir sind Todfeinde«, sagte Stokven.
»Wir sind Todfeinde«, bestätigte Estraven.»Aber ich habe dich noch nie gesehen.«
Stokven wandte das Gesicht ab.»Ich sah dich einmal vor langer Zeit«, sagte er.»Ich wünschte, es könnte Frieden sein zwischen unseren Häusern.«
Estraven antwortete:»Ich werde dir Frieden schwören.«
Sie schworen Frieden, und dann sprach niemand mehr; der Verwundete schlief. Am nächsten Morgen war Stokven fort, aber eine Gruppe Leute aus dem Dorf Ebos kam an die Hütte und brachte Estraven heim nach Estre. Sie wagten sich dem Willen des alten Lord nicht mehr zu widersetzen, denn die Rechtmäßigkeit seiner Entscheidung stand, jedermann sichtbar, mit dem Blut dreier Männer auf das Eis des Sees geschrieben; und so wurde Therem nach Sorves Tod Lord von Estre. Innerhalb eines Jahres beendete er die alte Fehde, indem er die Hälfte des umstrittenen Landes der Domäne Stock übergab. Deswegen, und auch wegen des Mordes an seinen Herdbrüdern, nannte man ihn Estraven, den Verräter. Trotzdem aber wird den Kindern dieser Domäne bis auf den heutigen Tag sein Name, Therem, gegeben.
ZEHNTES KAPITEL
Gespräche in Mishnory
Am nächsten Morgen beendete ich gerade ein spätes Frühstück, das mir in meiner Suite in Shusgis’ Haus serviert worden war, als das Haustelefon einen höflichen Blökton von sich gab. Als ich es einschaltete, meldete sich der Besucher auf Karhidisch:»Hier Therem Harth. Darf ich heraufkommen?«
»Ja, bitte.«
Ich war froh, diese Begegnung so schnell hinter mich bringen zu können. Ganz offensichtlich konnte es zwischen mir und Estraven keinerlei einigermaßen erträgliche Beziehung geben. Obgleich seine Entmachtung und sein Exil wenigstens offiziell auf mein Konto gingen, konnte ich die Verantwortung dafür nicht übernehmen, ja ich fühlte mich nicht einmal schuldig, denn er hatte mir in Erhenrang weder seine merkwürdige Handlungsweise noch seine Gründe dafür erklärt, und deswegen war es mir auch unmöglich, ihm zu vertrauen. Es wäre mir lieber gewesen, wenn er mit diesen Orgota, die mich sozusagen adoptiert hatten, nichts zu schaffen gehabt hätte.
Einer der vielen Hausangestellten führte ihn in mein Zimmer. Ich bot ihm einen der großen, gepolsterten Sessel an und offerierte ihm ein Frühstücksbier. Er lehnte ab. Sein Verhalten war nicht gezwungen — die Schüchternheit, wenn er je schüchtern gewesen war, hatte er längst abgelegt -, sondern beherrscht: behutsam tastend, reserviert.
»Der erste richtige Schnee«, bemerkte er. Und, als er den Blick sah, den ich zu dem dicht verhangenen Fenster hinüberwarf:»Haben Sie noch nicht hinausgeschaut?«
Ich tat es und sah, daß draußen von einem leichten Wind in dichten Wirbeln Schnee die Straßen entlang und über die weiß gewordenen Dächer getrieben wurde; über Nacht waren sechs bis acht Zentimeter gefallen. Dabei hatten wir erst den Odarh Gor, den 17. Tag des ersten Herbstmonats.»Er kommt dieses Jahr sehr früh«, stellte ich staunend fest, einen Augenblick vom Wunder des ersten Schnees fasziniert.
»Man hat vorausgesagt, daß es ein sehr harter Winter wird.«
Ich ließ die Vorhänge offen. Das trübe, gleichmäßige Licht von draußen fiel auf sein dunkles Gesicht. Er wirkte sichtlich gealtert. Seit ich in Erhenrang, im Roten Eckgebäude des Palastes, an seinem eigenen Kamin zu Gast gewesen war, hatte er schwere Zeiten durchmachen müssen.
»Hier ist das Päckchen, das man mir für Sie mitgegeben hat«, sagte ich und reichte ihm das in Folie gewickelte Geldbündel, das ich, als er sich anmelden ließ, auf einem Tischchen für ihn bereitgelegt hatte. Er nahm es, würdevoll dankend entgegen. Ich selbst hatte mich nicht gesetzt. Nach einer Weile stand er auf, das Päckchen immer noch in den Händen.
Mein Gewissen juckte mich ein wenig, aber ich wollte ihn von jedem weiteren Besuch bei mir abschrecken. Daß ich ihn zu diesem Zweck demütigen mußte, war zwar bedauerlich, aber nicht zu ändern.