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Er sah mich offen an. Er war natürlich kleiner als ich, gedrungen, mit kurzen Beinen, und nicht einmal so groß wie viele Frauen meiner Rasse. Und trotzdem schien er jetzt, als er mich ansah, nicht zu mir aufzuschauen. Ich wich seinem Blick aus und musterte mit intensivem Interesse das Radio auf dem Tisch, als sähe ich es zum erstenmal.

»Man darf nicht alles glauben, was man hier so über das Radio hört«, bemerkte er freundlich.»Aber mir scheint, daß Sie in Mishnory einige Informationen und gute Ratschläge gebrauchen könnten.«

»Und anscheinend gibt es eine ganze Reihe Leute, die mir diese nur allzu gern zuteil werden lassen.«

»Je größer die Anzahl, desto größer die Sicherheit, wie? Zehn sind vertrauenswürdiger als einer. Verzeihen Sie, ich sollte hier nicht Karhidisch sprechen.«Auf Orgota fuhr er fort:»Verbannte sollten niemals ihre Heimatsprache verwenden; sie klingt bitter aus ihrem Mund. Und außerdem finde ich, daß diese Sprache, die einem wie Sirup von den Zähnen tropft, einem Verräter besser ansteht. Mr. Ai, ich habe das Recht, Ihnen zu danken. Sie haben sowohl mir als auch meinem alten Freund und Kemmering Ashe Foreth einen Dienst erwiesen, daher werde ich jetzt in seinem und in meinem Namen dieses Recht beanspruchen. Mein Dank an Sie ist ein guter Rat.«Er hielt inne; ich sah ihn nicht an und schwieg. Ich hatte diese herbe, ausgesuchte Höflichkeit bisher noch nie an ihm erlebt und ahnte nicht, was sie bedeuten mochte. Er fuhr fort:»Sie sind hier in Mishnory, was Sie in Erhenrang nicht waren. Dort sagt man, Sie wären es; hier wird man Ihnen sagen, daß Sie es nicht sind. Sie sind das Werkzeug einer Partei. Ich rate Ihnen gut, seien Sie vorsichtig, achten Sie genau darauf, wie Sie sich von ihnen benutzen lassen. Ich rate Ihnen, stellen Sie fest, wer die gegnerische Partei ist, was sie will, und lassen Sie sich von ihr auf keinen Fall benutzen, denn sie wird Sie sonst zu einem schlechten Zweck benutzen.«

Er schwieg. Ich wollte ihn bitten, sich doch etwas näher zu erklären, aber er sagte:»Auf Wiedersehen, Mr. Ai«, drehte sich um und ging. Ich blieb ein wenig benommen zurück. Dieser Mann war wie ein elektrischer Schock: nicht mit den Händen zu greifen, so daß man keine Ahnung hat, wovon man eigentlich getroffen wird.

Nun, eins hatte er mit Sicherheit fertig gebracht: Er hatte die friedliche, selbstzufriedene Stimmung zerstört, in der ich mein Frühstück eingenommen hatte. Ich trat an das schmale Fenster und blickte hinaus. Das Schneetreiben war ein wenig dünner geworden. Wunderschön sah es aus, wie die weißen Flocken herabschwebten. Es erinnerte mich an die fallenden Kirschblüten in den Obstgärten zu Hause, wenn der Frühlingssturm die grünen Hänge Borlands, wo ich geboren bin, entlangtobt: zu Hause, auf der Erde, der warmen Erde, wo die Bäume im Frühling Blüten tragen. Mit einemmal war ich zutiefst niedergeschlagen und krank vor Heimweh. Zwei Jahre hatte ich jetzt auf diesem verdammten Planeten verbracht, und der dritte Winter hatte begonnen, ehe der Herbst überhaupt angefangen hatte: Monate und Monate voll unerbittlicher Kälte, Schneematsch, Eis, Wind, Regen, Schnee, Kälte, Kälte drinnen, Kälte draußen, Kälte, die bis in die Knochen, bis ins Knochenmark drang. Und die ganze Zeit völlig allein, fremd, isoliert, ohne eine Menschenseele, der ich vertrauen konnte. Armer Genly, soll ich über dich weinen? Unten sah ich Estraven aus dem Haus auf die Straße treten, eine dunkle, durch die Perspektive verkürzte Gestalt in dem gleichmäßigen, unbestimmten Grauweiß des Schnees. Er sah sich um, rückte seinen Hiebgürtel zurecht; einen Mantel trug er nicht. Dann ging er mit energischen, geschmeidigen Schritten die Straße hinab — so gesammelt, so zielbewußt, als sei er der wichtigste Mann, der eigentliche Herr in Mishnory.

Ich wandte mich wieder dem warmen Zimmer zu. Seine Behaglichkeit, sein Luxus wirkten auf einmal erstickend und unelegant: der Heizofen, die gepolsterten Sessel, das Bett, auf dem sich die Felle türmten, die Teppiche, Vorhänge, wärmenden Hausmäntel und Schals.

Ich zog meinen Wintermantel an und ging spazieren — ein übellauniger Mann in einer übellaunigen Welt.

Das Mittagessen sollte ich an jenem Tag mit den Commensalen Obsle und Yegey und einigen anderen einnehmen, die ich am Abend zuvor kennengelernt hatte; bei der Gelegenheit sollte ich auch noch einigen Personen vorgestellt werden, die ich noch nicht kannte. Das Mittagessen wird gewöhnlich als Büffet serviert und im Stehen eingenommen — vielleicht, damit man nicht das Gefühl hat, den ganzen Tag bei Tische sitzend verbracht zu haben. Für diese recht förmliche Einladung jedoch hatte man einen Tisch gedeckt, und das Büffet war einfach überwältigend: achtzehn bis zwanzig warme und kalte Speisen, die meisten davon Variationen von Sube-Eiern und Brotäpfeln. Am Serviertisch, ehe das Gesprächstabu in Kraft trat, erklärte mir Obsle, während er sich den Teller mit im Teig gebackenen Sube-Eiern belud:»Der Kerl, der Mersen heißt, ist ein Spion von Erhenrang, und Gaum da drüben ist ein Agent des Sarf.«Er sprach im Unterhaltungston, lachte, als hätte ich ihm eine belustigende Antwort gegeben, und schob sich an die Platte mit eingelegtem Schwarzfisch weiter.

Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was der ›Sarf‹ war.

Als sich die Gäste allmählich hinsetzten, kam ein junger Mann herein und flüsterte unserem Gastgeber Yegey etwas zu. Yegey drehte sich zu uns um und sagte laut:»Neuigkeiten von Karhide! Heute morgen wurde König Argavens Kind geboren und ist innerhalb einer Stunde gestorben.«

Zunächst Schweigen, dann aufgeregtes Stimmengewirr, und schließlich begann der schöne Mann mit Namen Gaum zu lachen und hob seinen Bierkrug.»Auf daß alle Könige von Karhide so lange leben!«Einige der Anwesenden tranken mit, die meisten taten es nicht.»Beim Namen Meshes, über den Tod eines Kindes zu lachen!«tadelte ein dicker, alter Mann in Purpur, der sich schwerfällig neben mir niederließ. Seine Gamaschen bauschten sich wie ein Rock um seine Schenkel, und sein Gesicht drückte tiefe Abscheu aus.

Man diskutierte über die Frage, welchen seiner Kemmeringsöhne Argaven nun wohl zum Erben ernennen würde — denn er war einige Jahre über vierzig und würde nun bestimmt kein leibliches Kind mehr gebären -, und wie lange er Tibe die Regentschaft überlassen würde. Einige glaubten, er werde Tibe die Regentschaft sofort entziehen, andere dagegen zweifelten daran.»Was meinen Sie, Mr. Ai?«erkundigte sich der Mann, der Mersen hieß, und den Obsle als karhidischen Agenten und somit als einen von Tibes Männer bezeichnet hatte.»Sie kommen doch gerade von Erhenrang. Was sagt man dort über die Gerüchte, das Argaven tatsächlich ohne vorherige Ankündigung abgedankt, den Schlitten seinem Cousin überlassen haben soll?«

»Nun ja, ich habe diese Gerüchte auch gehört.«

»Und sind Sie der Ansicht, daß ein Kern Wahrheit in ihnen steckt?«

»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte ich. Im selben Augenblick unterbrach uns der Gastgeber mit einer Bemerkung über das Wetter, denn man hatte zu essen begonnen.

Nachdem die Diener unsere Teller und die Berge von Resten an Braten und Eingemachten vom Büffet geräumt hatten, blieben wir alle noch um den langen Tisch sitzen. Kleine Becher eines starken Branntweins wurden serviert, den sie, wie es die Menschen fast überall tun, Lebenswasser nannten. Und nun wurden mir Fragen gestellt.

Seit mich die Ärzte und Wissenschaftler von Erhenrang untersucht hatten, war ich nie wieder einer Gruppe von Menschen gegenübergestellt worden, die von mir verlangten, daß ich ihre Fragen beantwortete. Nur wenige Karhider, sogar die Fischer und Bauern nicht, bei denen ich meine ersten Monate verbracht hatte, hatten sich dazu überwinden können, ihre brennende Neugier zu befriedigen, indem sie mich einfach fragten. Sie waren stets in sich gekehrt, introvertiert, indirekt gewesen; sie mochten weder Fragen noch Antworten. Ich dachte an die Festung Otherhord und an das, was mir Faxe, der Weber, im Hinblick auf Antworten gesagt hatte… Sogar die Fachleute hatten ihre Fragen streng auf physiologische Dinge beschränkt, wie etwa auf die Funktion meiner Drüsen und meines Kreislaufs, in der ich mich am auffallendsten von der gethenischen Norm unterschied. Sie waren, zum Beispiel, niemals so weit gegangen, mich zu fragen, in welcher Weise die fortwährende Sexualität meiner Rasse die sozialen Institutionen beeinflußte und wie wir mit unserer ›permanenten Kemmer‹ fertig wurden. Sie lauschten, als ich berichtete; die Psychologen lauschten, als ich ihnen von der Gedankensprache erzählte; doch nicht ein einziger hatte es über sich gebracht, so viele Fragen zu stellen, daß er sich ein einigermaßen korrektes Bild der terrestrischen oder ökumenischen Gesellschaft machen konnte — niemand, außer vielleicht Estraven.