»Bei Meshes Milch!«sagte der dicke Humery neben mir.»Sie wollen, daß wir ins Nichts hinausfliegen? Pfui!«Vor Abscheu und Belustigung stieß er einen keuchenden Laut aus, der den hohen Tönen eines Akkordeons glich.
Gaum fragte:»Wo ist denn Ihr Schiff, Mr. Ai?«Er stellte die Frage mit leiser Stimme, leicht lächelnd, als wäre es eine sehr subtile Frage und er wünschte, daß das beachtet werde. Gaum war, ganz gleich, welche Maßstäbe man anlegte und welches Geschlecht man in ihm sah, ein außerordentlich schöner Mensch, so daß ich ihn, während ich antwortete, ununterbrochen anstarren mußte, mich aber gleichzeitig fragte, was der Sarf eigentlich war.»Nun, das ist durchaus kein Geheimnis, Mr. Gaum. Der karhidische Rundfunk hat eine Menge Berichte darüber gebracht. Die Rakete landete mit mir auf der Horden-Insel und befindet sich jetzt in der Königlichen Schmiedewerkstatt der Handwerksschule; jedenfalls zum größten Teil. Ich vermute, daß die verschiedenen Experten verschiedene Stücke davon mitgenommen haben, als sie mit ihren Untersuchungen fertig waren.«
»Rakete?«erkundigte sich Humery. Ich hatte nämlich das Orgota-Wort für ›Feuerwerkskörper‹ benutzt.
»Dieser Ausdruck beschreibt präzise die Antriebsmethode des Landungsbootes, Sir.«
Schon wieder keuchte Humery amüsiert. Gaum sagte lächelnd:»Dann haben Sie also keine Möglichkeit, dorthin zurückzukehren, wo Sie hergekommen sind?«
»O doch. Ich kann per Ansible mit Ollul sprechen und bitten, daß man ein NAFAL-Schiff schickt, das mich hier abholt. Es würde siebzehn Jahre für die Fahrt brauchen. Oder ich kann per Funk mit dem Sternenschiff, das mich in Ihr Sonnensystem gebracht hat, Kontakt aufnehmen. Es befindet sich in einer Umlaufbahn um Ihre Sonne und könnte in wenigen Tagen hier sein.«
Die Erregung, die meine Worte bei den anderen auslösten, war deutlich zu sehen und zu hören, und sogar Gaum konnte sein Erstaunen nicht verbergen. Darin lag eine gewisse Diskrepanz. Es war die eine, große Tatsache, die ich in Karhide nicht einmal Estraven mitgeteilt hatte. Wenn die Orgota, wie man mir angedeutet hatte, über mich nur das wußten, was Karhide an sie weitergegeben hatte, dann hätte dies für sie nur eine von vielen Überraschungen sein dürfen. Aber es war die einzige.
»Wo ist dieses Schiff, Sir?«fragte mich Yegey.
»In einer Umlaufbahn um die Sonne, irgendwo zwischen Gethen und Kuhurn.«
»Wie sind Sie von dort hierhergekommen?«
»Mit einem Feuerwerkskörper«, warf der alte Humery ein.
»Genau. Mit Interstellarschiffen landen wir auf bewohnten Planeten erst, wenn eine freie Kommunikation oder ein Bündnis hergestellt worden ist. Darum kam ich in einem kleinen Raketenboot und landete auf der Horden-Insel.«
»Und Sie können sich mit diesem… diesem großen Schiff über eine gewöhnliche Funkanlage in Verbindung setzen?«
Das war Obsle.
»Jawohl.«Die Existenz meines kleinen Relais-Satelliten, der von der Rakete vor der Landung abgesetzt und in eine Umlaufbahn gebracht worden war, verschwieg ich ihnen fürs erste, denn ich wollte nicht, daß sie den Eindruck gewannen, ihr Himmel wimmelte von meinen Maschinen.»Man müßte ein ziemlich starkes Sendegerät nehmen, aber davon haben sie ja genug.«
»Dann könnten wir mit Ihrem Schiff Kontakt aufnehmen?«
»Ja — wenn Sie das richtige Signal wüßten. Die Besatzung befindet sich in einem Zustand, den wir Stase nennen, sozusagen im Winterschlaf, damit die Leute nicht unnütz die Lebensjahre verlieren, die sie mit dem Warten auf mich verbringen, während ich hier unten versuche, meine Aufgabe zu erfüllen. Das richtige Signal auf der richtigen Wellenlänge bringt die Maschinerie in Bewegung, die sie aus der Stase herausholt. Anschließend setzen sie sich mit mir über Ollul als Relaiszentrum per Funk oder Ansible in Verbindung.«
»Wie viele sind es?«fragte jemand beunruhigt.
»Elf.«
Das löste ein erleichtertes Lachen aus. Die Spannung im Raum ließ ein wenig nach.
»Und wenn Sie das Signal nun überhaupt nicht geben?«fragte Obsle.
»Dann werden sie in ungefähr vier Jahren automatisch aus ihrer Stase erwachen.«
»Und hierherkommen, um Sie zu suchen?«
»Nur wenn sie eine Nachricht von mir bekommen. Nein, sie würden sich bei den Stabilen von Ollul und Hain per Ansible Anweisungen holen. Vermutlich werden sie beschließen, noch einen Versuch zu wagen, einen zweiten Gesandten herzuschicken. Dieser zweite Gesandte hat es nicht selten leichter als der Erste. Er braucht nicht soviel zu erklären, und die Leute sind eher geneigt, ihm zu glauben…«
Obsle grinste. Die meisten anderen machten noch immer nachdenkliche, zurückhaltende Gesichter. Gaum nickte mir munter zu, als wollte er mir zu der Schnelligkeit gratulieren, mit der ich diesen Fragen begegnete: das Nicken eines Mitverschwörers. Slose schaute mit glänzenden Augen starr auf eine innere Vision, bis er sich unvermittelt davon losriß und sich an mich wandte.»Warum, Mr. Ai«, fragte er,»haben Sie während der zwei Jahre, die Sie in Karhide verbracht haben, niemals von diesem anderen Schiff gesprochen?«
»Woher sollen wir wissen, daß er nicht davon gesprochen hat?«warf Gaum lächelnd ein.
»Wir wissen verdammt genau, daß er nicht davon gesprochen hat, Mr. Gaum«, konterte Yegey, ebenfalls lächelnd.
»Ich habe es nicht getan«, bestätigte ich.»Und zwar aus folgenden Gründen. Die Vorstellung, daß dieses Schiff da draußen wartet, kann sehr beunruhigend sein. Bestimmt werden einige von Ihnen das ebenso empfinden. In Karhide bin ich bei denjenigen, mit denen ich zu tun hatte, nie so weit gekommen, daß ich Vertrauen zu ihnen haben und das Risiko eingehen konnte, von diesem Schiff zu sprechen. Sie hier dagegen hatten mehr Zeit, über mich nachzudenken; Sie sind bereit, mich in der Öffentlichkeit anzuhören; Sie sind nicht so von Angst beherrscht. Ich bin das Risiko eingegangen, weil ich der Ansicht bin, daß der Zeitpunkt dafür gekommen und das Orgoreyn der richtige Ort dafür ist.«
»Da haben Sie recht Mr. Ai. Da haben Sie recht!«pflichtete Slose mir begeistert bei.»In diesem Monat noch werden Sie Ihr Schiff kommen lassen, und die Orgota werden es als sichtbares Zeichen und Siegel der neuen Epoche willkommen heißen. Allen, die jetzt nicht sehen, werden die Augen geöffnet werden!«
So ging es weiter, bis uns an unseren Plätzen das Abendessen serviert wurde. Wir aßen und tranken und gingen dann heim — ich persönlich war erschöpft, doch alles in allem zufrieden mit dem Verlauf der Ereignisse. Es fehlte natürlich auch nicht an Warnzeichen und Unklarheiten. Slose wollte eine Religion aus mir machen, Gaum mich zum Schwindler stempeln. Mersen schien beweisen zu wollen, daß er kein karhidischer Agent war, indem er bewies, daß ich einer war. Doch Obsle, Yegey und einige andere arbeiteten auf einem höheren Niveau. Sie wollen mit den Stabilen wirklich Kontakt aufnehmen und das NAFAL-Schiff auf Orgota-Boden landen lassen, um dann die Commensalität von Orgoreyn zu einer Allianz mit der Ökumene zu überreden oder, wenn es sein mußte, zu zwingen. Sie glaubten, daß Orgoreyn dadurch einen großen und lange währenden Prestigesieg über Karhide davontragen würde, und daß die Commensalen, die diesen Sieg herbeigeführt hatten, entsprechend an Macht und Prestige in der Regierung gewinnen müßten. Ihre Fraktion, die Freihandelspartei, eine Minderheit der Dreiunddreißig, opponierte gegen die Fortsetzung des Streites um das Sinoth-Tal und repräsentierte ganz allgemein eine konservative, unaggressive, unnationalistische Politik. Sie waren schon lange nicht mehr an der Macht gewesen und schätzen, daß ihre Rückkehr an die Macht, kalkulierte man einige Risiken ein, auf dem Weg lag, den ich ihnen wies. Daß sie nicht weiter sahen, daß meine Mission für sie ein Mittel war, und nicht der Zweck, war nicht weiter schlimm. Waren sie erst einmal auf diesem Weg, begannen sie vielleicht zu ahnen, wohin er sie führen könnte. Bis dahin waren sie, obzwar sehr kurzsichtig, doch immerhin realistisch.