Schon seit ich mich mit dem Wagen vor vier Tagen durch die weiten, goldenen Felder Orgoreyns aufgemacht und meinen erfolgreichen Weg zum inneren Sanktum von Mishnory begonnen hatte, hatte ich etwas vermißt. Was war es nur? Ich fühlte mich isoliert. In letzter Zeit hatte ich die Kälte nicht mehr so gespürt, aber die Zimmer wurden hier gut geheizt. In letzter Zeit hatte ich nicht mehr mit Appetit gegessen; aber die Orgota-Küche war fade. Also hatte das alles nichts zu bedeuten. Doch warum wirkten die Menschen die ich kennenlernte, ob sie mir positiv oder negativ gegenüberstanden, ebenfalls fade auf mich? Es gab doch starke Persönlichkeiten unter ihnen — Obsle, Slose, den schönen und abscheulichen Gaum -, und dennoch fehlte allen ein gewisses Etwas, irgendeine Dimension des Daseins. Sie konnten sich nicht überzeugen. Sie waren nicht konkret.
Es war, fand ich, als würfen sie keinen Schatten.
Diese Art eigentlich recht überheblicher Spekulation ist ein wesentlicher Bestandteil meiner Aufgabe. Ohne die Veranlagung dazu hätte ich mich nicht als Mobiler qualifizieren können, und diese Veranlagung wurde dann noch auf Hain offiziell trainiert, wo man sie mit der Bezeichnung ›Weitherholen‹ glorifiziert. Was man mit diesem Weitherholen erreichen will, könnte als intuitive Wahrnehmung einer moralischen Ganzheit beschrieben werden und findet seinen Ausdruck eher in Metaphern als in rationalen Symbolen. Ich war nie ein besonders guter Weitherholer, und da ich an diesem Abend sehr müde war, mißtraute ich meiner eigenen Intuition. Zu Hause in meiner Wohnung suchte ich Zuflucht unter einer heißen Dusche. Aber auch dort empfand ich eine unbestimmte Nervosität, als sei sogar das heiße Wasser nicht echt und real, und ich könne mich nicht darauf verlassen, daß es tatsächlich meine Haut berührte.
ELFTES KAPITEL
Selbstgespräche in Mishnory
Mishnory. Streith Susmy. Ich habe keine Hoffnung mehr, obwohl mir alle Ereignisse Anlaß zur Hoffnung geben. Obsle feilscht und schachert mit seinen Con-Commensalen, Yegey versucht es mit Schmeicheleien, Slose möchte gern bekehren und die Zahl ihrer Anhänger wächst. Sie alle sind sehr kluge Männer und haben ihre Partei fest in der Hand. Nur sieben der Dreiunddreißig sind zuverlässige Vertreter der Freihandelspartei; von den übrigen glaubt Obsle noch zehn zu gewinnen und damit eine knappe Mehrheit zu bekommen.
Ein einziger von ihnen scheint sich aufrichtig für den Gesandten zu interessieren: Csl. Ithepen aus dem Eynyen- Distrikt. Er ist deswegen so wißbegierig im Hinblick auf Mr. Ais Mission, weil er im Dienste des Sarf die Aufgabe hatte, alle Berichte, die wir in Erhenrang über den Rundfunk sendeten, zu zensieren. Es scheint die Bürde dieser Nachrichtenunterdrückung auf seinem Gewissen zu lasten. Er machte Obsle den Vorschlag, die Dreiunddreißig sollten ihre Einladung an das Sternenschiff nicht nur ihren Landsleuten, sondern auch Karhide bekanntgeben und Argaven bitten, seine, des Königs Stimme, der Einladung hinzuzufügen. Ein lobenswerter Plan, der aber nicht befolgt werden wird. Nie werden sie Karhide bitten, sich ihnen in irgendeiner Angelegenheit anzuschließen.
Die Männer des Sarf unter den Dreiunddreißig opponieren natürlich gegen jegliche Berücksichtigung der Anwesenheit und der Mission des Gesandten. Und diese lauen Blockfreien, die Obsle zu gewinnen hofft, haben, so glaube ich, ebenso große Angst vor dem Gesandten wie Argaven und der größte Teil seines Hofes; nur mit dem Unterschied, daß Argaven, da selber wahnsinnig, ihn für einen Wahnsinnigen hielt, während man in ihm hier einen ebenso abgefeimten Lügner sieht, wie sie es selbst sind. Sie fürchten, in aller Öffentlichkeit einem ungeheuren Schwindel aufzusitzen, einem Schwindel, dem Karhide bereits die Tür gewiesen, ja, den Karhide vielleicht sogar erfunden hat. Sie sprechen diese Einladung aus; sie sprechen sie sogar öffentlich aus. Aber wo bleibt ihr shifgrethor, wenn gar kein Sternenschiff kommt?
Genly Ai verlangt in der Tat ein ungewöhnliches Vertrauen von uns.
Für ihn jedoch ist es ganz eindeutig gar nicht so ungewöhnlich.
Und Obsle und Yegey sind überzeugt, daß sie die Mehrheit der Dreiunddreißig dazu bringen können, ihm dieses Vertrauen zu schenken. Ich weiß nicht, warum ich weniger hoffnungsfroh bin als sie; vielleicht will ich im Grunde gar nicht, daß Orgoreyn sich als vorurteilsfreier als Karhide erweist, daß es das Risiko eingeht, das Lob dafür einstreicht und Karhide im Schatten läßt. Wenn diese Mißgunst ein patriotisches Gefühl sein sollte, kommt sie zu spät; sobald ich sah, daß Tibe mich binnen kurzem vertreiben würde, tat ich alles, was in meiner Macht stand, um zu veranlassen, daß der Gesandte nach Orgoreyn kam, und hier im Exil habe ich getan, was ich konnte, die anderen für ihn zu gewinnen.
Dank meines Geldes, das er mir von Ashe brachte, kann ich jetzt wieder selbständig leben — als ›Einheit‹, muß nicht mehr als ›Dependant‹ leben. Ich gehe nicht mehr zu Banketten, lasse mich weder mit Obsle noch mit den anderen Fürsprechern des Gesandten in der Öffentlichkeit sehen und habe auch den Gesandten selbst seit über einem Halbmonat, das heißt, seit seinem zweiten Tag in Mishnory, nicht mehr gesehen.
Er gab mir Ashes Geld, wie man einem gedungenen Mörder seinen Lohn hinwirft. Nur selten bin ich so wütend gewesen, und ich habe ihn bewußt beleidigt. Er wußte, daß ich wütend war, aber ich bin nicht sicher, ob er begriffen hat, daß er beleidigt wurde; er schien meinen Rat trotz der Art und Weise, in der er gegeben wurde, zu akzeptieren. Das erkannte ich, als sich meine Hitze ein wenig gelegt hatte, und es machte mir Sorgen. Wäre es möglich, daß er in Erhenrang die ganze Zeit meinen Rat gesucht hat und nur nicht wußte, wie er mir beibringen sollte, daß er ihn suchte? Wenn dem so ist, dann muß er die Hälfte von allem, was ich ihm damals, am Abend nach der Schlußsteinzeremonie, vor meinem Kamin im Palast gesagt habe, mißverstanden und das übrige überhaupt nicht begriffen haben. Sein shifgrethor scheint auf ganz anderen Grundsätzen zu beruhen, ganz anders zusammengesetzt zu sein und von ganz anderen Dingen getragen zu werden als der unsere, und als ich glaubte, besonders offen und aufrichtig zu ihm zu sein, hat er mich möglicherweise besonders rätselhaft und verwirrend gefunden.
Seine Dummheit beruht auf Unkenntnis, seine Arroganz ebenso. Er kennt uns nicht. Wir kennen ihn nicht. Er ist uns unendlich fremd, und ich bin ein Tor, daß ich meinen Schatten über das Licht der Hoffnung geworfen habe, die er uns bringt. Ich unterdrückte meinen verletzten Stolz. Ich gehe ihm aus dem Weg, denn was er will, ist eindeutig. Und er hat recht. Ein exilierter, karhidischer Verräter ist kein Gewinn für seine Sache.
Dem Orgota-Gesetz entsprechend muß jede ›Einheit‹ einer geregelten Arbeit nachgehen, also arbeite ich von der achten Stunde bis Mittag in einer Plastikfabrik. Leichte Arbeit. Ich beaufsichtige eine Maschine, die Plastikscheiben zu kleinen, durchsichtigen Schachteln zusammenfügt und verschweißt. Wofür diese Schachteln bestimmt sind, weiß ich nicht. Des Nachmittags habe ich, da ich feststellen mußte, daß ich allmählich abstumpfte, die alten Übungen wiederaufgenommen, die ich in Rotherer gelernt habe. Es freut mich, zu sehen, daß ich meine Fähigkeit, dothe-Kräfte zu wecken oder mich in Untrance zu versetzen, noch nicht verlernt habe. Aber die Untrance nützt mir nicht viel, und was die Fähigkeit zum Stillhalten und Fasten angeht, so sieht es aus, als hätte ich sie niemals gelernt. Ich muß, wie ein Kind, noch einmal ganz von vorne anfangen. Jetzt habe ich erst einen Tag gefastet, und schon knurrt mein Magen vor Pein. Dabei sollte ich es eine Woche durchhalten.
In den Nächten friert es jetzt; heute abend wirft ein kräftiger Wind Graupelschauer gegen die Scheiben. Den ganzen Abend mußte ich ununterbrochen an Estre denken, und auch das Tosen des Windes scheint mir das Tosen des Windes zu sein, der in Estre bläst. Ich habe heute abend meinem Sohn geschrieben, einen sehr langen Brief. Beim Schreiben hatte ich immer wieder das Gefühl, Arek sei in meiner Nähe, ich brauche mich nur umzudrehen, um ihn sehen zu können. Warum schreibe ich Dinge wie diese auf? Damit mein Sohn sie eines Tages lesen kann? Sie würden ihm auch nicht viel helfen. Vielleicht tue ich es nur, um in meiner eigenen Sprache schreiben zu können.