Fallender Schnee; frisch gefallener Schnee; alter Schnee; Schnee, nachdem Regen darauf gefallen ist; verharschter Schnee… Sowohl die Orgota- als auch die Karhidesprache haben Bezeichnungen für jede einzelne dieser Schneearten. Auf Karhidisch, das mir geläufiger ist als Orgota, gibt es nach meiner Rechnung zweiundsechzig Namen für die verschiedenen Schneesorten, -Stadien, -alter und -beschaffenheiten; das heißt, des bereits gefallenen Schnees. Eine andere Wortgruppe bezeichnet die verschiedenen Eigenschaften des Schneefalls, eine weitere diejenige des Eises und dann gibt es noch zwanzig oder mehr Bezeichnungen für die Temperatur, die Windstärke und den Niederschlag im allgemeinen. Während ich in jener Nacht untätig dasaß, versuchte ich in Gedanken eine Liste all dieser Wörter aufzustellen. Und jedesmal, wenn mir wieder ein neues einfiel, wiederholte ich die gesamte Litanei und setzte es in alphabetischer Reihenfolge an den ihm zukommenden Platz.
Im Morgengrauen hielt der Lastwagen an. Meine Leidensgenossen stürzten an den Sehschlitz und schrien hinaus, es ist ein Toter im Wagen; kommt und holt ihn endlich heraus. Einer nach dem anderen schrien wir. Gemeinsam hämmerten wir an die Seitenwände und die Tür und veranstalteten in unserem Stahlsarg einen so fürchterlichen Lärm, daß wir ihn bald selbst nicht mehr aushalten konnten. Niemand kam. Der Wagen blieb mehrere Stunden stehen. Endlich erklangen draußen Stimmen; der Wagen ruckte an, kam auf einem Eisbrett ins Rutschen und setzte sich in Bewegung. Durch den Schlitz konnte man sehen, daß es ein sonniger Vormittag war, und daß wir durch bewaldetes Hügelland fuhren.
So rollte der Lastwagen noch drei weitere Tage und Nächte dahin — alles in allem seit meinem Erwachen vier. Er hielt an keinem Kontrollpunkt an, und ich glaube, er kam auch durch keine größere Ortschaft. Er folgte einer Route, die kreuz und quer verlief, fuhr sozusagen auf Schleichwegen durch das Land. Gelegentlich wurde angehalten, damit sich die Fahrer abwechseln und die Batterien aufgeladen werden konnten; dann wieder gab es einen längeren Aufenthalt, dessen Grund vom Innern des Laderaums aus nicht ersichtlich war. Zwei Tage lang blieb der Wagen von Mittag bis Einbruch der Dunkelheit stehen, als sei er von den Fahrern vergessen worden; dann ging es, als es Abend war, wieder weiter. Einmal am Tag, so um die Mittagszeit, wurde uns durch eine Klappe in der Tür ein großer Krug Wasser hereingereicht.
Mit dem Toten zusammen waren wir sechsundzwanzig, zweimal dreizehn. Die Gethenianer rechnen gern mit dreizehn, sechsundzwanzig, zweiundfünfzig und so weiter, vermutlich wegen dem sechsundzwanzigtägigen Mondzyklus, der ihren immer gleichbleibenden Monat und annähernd ihren Sexualzyklus bestimmt. Den Leichnam hatten wir gegen die Stahltüren geschoben, von denen die Heckwand unseres Wagenkastens gebildet wurde, denn dort würde er am ehesten kalt bleiben. Wir übrigen saßen, lagen oder hockten jeder auf seinem Platz, seinem Territorium, seiner Domäne, bis die Nacht hereinbrach und die Kälte so unerträglich wurde, daß wir allmählich immer näher aneinanderrückten und schließlich zu einer Einheit verschmolzen, in deren Mitte es relativ warm war, während es an ihrer Peripherie immer kalt blieb.
Es gab auch Barmherzigkeit. Ich und einige andere, ein alter Mann und einer, der unter einem fast unerträglichen Husten litt, wurde als diejenigen, die am meisten unter der Kälte litten, von den übrigen fünfundzwanzig Nacht für Nacht in die Mitte genommen, wo es am wärmsten war. Wir kämpften nicht um diesen warmen Platz, wir waren einfach jede Nacht dort. Sie hat etwas Erschreckendes an sich, diese Barmherzigkeit, die der Mensch niemals verliert. Erschreckend, weil sie, wenn wir zuletzt nur noch nackt und bloß in Kälte und Dunkelheit hocken, das einzige ist, was uns noch bleibt. Wir, die wir so reich, so voller Kraft sind, müssen uns schließlich mit so kleiner Münze begnügen. Weil wir sonst nichts zu geben haben.
Doch wenn wir des Nachts auch eng zusammenrückten, so blieben wir einander unendlich fern. Einige waren noch von den Drogen benommen, andere waren an sich schon geistig oder sozial geschädigt, alle waren mißhandelt und eingeschüchtert worden. Dennoch mag es seltsam erscheinen, daß von den Fünfundzwanzig niemals einer auch nur ein einziges Mal zu allen anderen als Gruppe sprach, nicht einmal, um sie zu verfluchen. Es wurde Barmherzigkeit geübt, es wurde Ausdauer im Erdulden von Schmerz und Leid gezeigt, doch nur schweigend, immer nur schweigend. In der säuerlichen Finsternis unserer gemeinsamen Sterblichkeit eng zusammengedrängt, stießen wir ständig gegeneinander, wurden gegeneinander geworfen, fielen übereinander, atmeten so dicht beieinander, daß sich unser Atem mischte, preßten die Wärme mit unseren Körpern zusammen, als hätten wir ein Feuer zu schützen — und blieben doch Fremde. Nicht einmal ihre Namen erfuhr ich von meinen Leidensgefährten im Wagen.
Eines Tages, ich glaube, es war am dritten Tag, machte der Lastwagen halt und blieb mehrere Stunden lang stehen, so daß ich fürchtete, man habe uns an einem völlig verlassenen Ort einfach unserem Schicksal überlassen. Da begann auf einmal einer von ihnen mit mir zu sprechen. Er erzählte mir eine lange Geschichte von einer Mühle in Süd-Orgoreyn, wo er gearbeitet und sich mit dem Aufseher gestritten hatte. Er redete und redete mit seiner weichen, monotonen Stimme, und legte immer wieder seine Hand auf die meine, als wolle er sich vergewissern, daß ich ihm auch zuhöre. Die Sonne wanderte nach Westen, und während wir da am Straßenrand standen, fiel plötzlich ein Lichtstreifen zum Türschlitz herein. Auf einmal konnten wir alle, sogar diejenigen, die ganz hinten im Wagen saßen, ein wenig sehen. Und was ich sah, war ein Mädchen — ein verdrecktes, hübsches, dummes, erschöpftes Mädchen, das mir beim Sprechen schüchtern lächelnd, trostsuchend ins Gesicht sah. Der junge Orgota war in der Kemmer und fühlte sich zu mir hingezogen. Die einzige Gelegenheit, bei der einer von ihnen mich um etwas bat, und ich konnte es ihm nicht geben! Ich erhob mich und ging an den Fensterschlitz, als wollte ich nur frische Luft atmen und hinaussehen. Ich kehrte sehr lange nicht an meinen Platz zurück.
In jener Nacht erklomm der Lastwagen lange Steigungen, fuhr einmal abwärts, dann von neuem bergauf. Von Zeit zu Zeit blieb er aus unerklärlichen Gründen stehen. Bei jedem Halt lag draußen, außerhalb der Stahlwände unseres Wagenkastens, ein eisiges, absolutes Schweigen, das Schweigen einer weiten Ödlandschaft, das Schweigen der hohen Berge. Der Orgota, der in der Kemmer war, saß immer noch neben mir, versuchte noch immer, mich zu berühren, suchte meine Nähe. Abermals stand ich auf, preßte mein Gesicht an die Stahlmaschen des Fensters und atmete die saubere Luft, die mir wie ein Rasiermesser in Kehle und Lungen schnitt. Meine Hände, die auf der Metalltür lagen, wurden gefühllos, bis mir auf einmal klar wurde, daß sie erfrieren würden, wenn sie es nicht sogar schon waren. Der Atem hatte eine kleine Eisbrücke zwischen meinen Lippen und dem Draht gebildet. Ich mußte sie mit den Fingern zerbrechen, als ich mich abwenden wollte. Ich hockte mich dicht zu den anderen Gefangenen, begann aber trotzdem nach kurzer Zeit so stark vor Kälte zu zittern, einer Kälte, wie ich sie noch nie in meinem Leben gespürt hatte. Es war ein krampfhaftes, quälendes Schütteln, das den Konvulsionen des Fiebers glich. Der Lastwagen fuhr weiter. Das Motorengeräusch und die Bewegung verliehen mir die Illusion einer gewissen Wärme, weil sie das totenähnliche, gletscherkalte Schweigen durchbrachen, aber ich fror die ganze Nacht hindurch so sehr, daß ich nicht einen Augenblick lang schlafen konnte. Ich vermutete, daß wir uns während eines großen Teils der Nacht in extremer Höhe befanden, mit Sicherheit sagen ließ sich das jedoch nur schwer, da Atem, Herzschlag und Energieniveau unter den gegebenen Umständen nur unzuverlässige Indikatoren sind.