Wie ich später erfuhr, überquerten wir in jener Nacht die Sembensyens und müssen uns auf den Paßhöhen in über dreitausend Meter befunden haben.
Der Hunger störte mich nicht besonders. Die letzte Mahlzeit, an die ich mich erinnerte, war jenes lange und schwere Essen bei Shusgis gewesen, und in Kundershaden mußte man mir wohl auch etwas gegeben haben, obwohl ich daran keine Erinnerung hatte. Aber das Essen schien mit diesem Leben in dem Stahlkasten nichts zu tun zu haben, und ich dachte auch nicht oft daran. Der Durst allerdings war ein Dauerzustand. Einmal am Tag wurde die Klappe, die offensichtlich einzig zu diesem Zweck in der Hecktür angebracht war, bei einem kurzen Halt geöffnet, einer von uns schob den Plastikkrug hinaus, und gleich darauf wurde er uns, zusammen mit einem Hauch eisiger Luft, wieder hereingereicht. Eine Möglichkeit, die Wassermenge, die jedem von uns zustand, abzumessen, gab es nicht. Der Krug ging herum und jeder bekam drei bis vier kräftige Schlucke, ehe die nächste Hand danach griff. Niemand, weder ein Einzelner noch eine Gruppe, trat als Verteiler oder Überwacher auf; niemand sorgte dafür, daß für den Mann, der so schwer hustete, ein Schluck Wasser aufgehoben wurde, obgleich er jetzt hohes Fieber hatte. Ich machte zwar einmal einen entsprechenden Vorschlag, und alle, die in meiner Nähe saßen, nickten zustimmend; unternommen aber wurde nichts, niemand hielt sich daran. Das Wasser wurde mehr oder weniger gerecht verteilt — niemand versuchte jemals, sich mehr als seinen Anteil zu holen — und war binnen weniger Minuten ausgetrunken. Einmal bekamen die letzten drei, die an der Vorderwand des Kastens saßen, nichts mehr ab: Der Krug war leer, als er zu ihnen kam. Am nächsten Tag bestanden zwei von ihnen darauf, die ersten zu sein, und man ließ sie gewähren. Der dritte lag regungslos in seiner Ecke und niemand kümmerte sich darum, daß er seinen Anteil bekam. Warum unternahm ich nichts? Ich weiß, es nicht. Es war der vierte Tag im Wagen. Ich weiß nicht einmal, ob ich versucht hätte, mir meinen Anteil zu holen, wenn man mich übergangen hätte. Ich wußte, daß er und der Kranke und die anderen Durst hatten und litten, genau wie ich. Aber ich konnte nichts dagegen tun, und darum nahm ich es hin, wie sie es hinnahmen: gelassen.
Ich weiß, daß Menschen sich unter denselben Umständen sehr unterschiedlich verhalten können. Doch dies waren Orgota, Menschen, die von Geburt an auf Gehorsam und Unterwerfung unter einen Gruppenzweck gedrillt waren, der von oben befohlen wurde. Selbständigkeit und Entschlußkraft waren in ihnen absichtlich unterdrückt worden. Die Fähigkeit, in Zorn auszubrechen, besaßen sie nur in geringem Maß. Sie bildeten ein Ganzes, zu dem auch ich gehörte. Jeder einzelne fühlte es, und in der Nacht war es für uns eine Zuflucht und ein Trost, dieses Ganze der eng zusammengedrängten Gruppe zu spüren, in der jeder vom anderen Leben bekam. Aber es gab keinen Sprecher für das Ganze; es hatte keinen Kopf, es war und blieb passiv.
Menschen, deren Willenskraft stärker entwickelt war, wären vielleicht besser gefahren, hätten mehr geredet, das Wasser gerechter verteilt, den Kranken mehr Fürsorge zuteil werden lassen und den Kopf oben behalten. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, wie es in diesem Lastwagen war.
Am fünften Morgen nach meinem Erwachen im Wagen wurde wieder angehalten. Wir hörten Stimmen und Rufe. Die stählernen Hecktüren wurden von außen entriegelt und weit aufgerissen.
Einer nach dem anderen krochen wir, einige von uns auf allen Vieren, zum offenen Ende des Stahlkastens und sprangen oder hangelten uns auf den Boden hinab. Das heißt, vierundzwanzig von uns. Zwei Tote, der alte Leichnam und ein neuer — derjenige, der zwei Tage lang keinen Schluck Wasser bekommen hatte — wurden herausgezerrt.
Es war kalt draußen, so kalt und so grell durch das weiße Sonnenlicht auf dem weißen Schnee, daß es uns sehr, sehr schwerfiel, das stinkende Obdach des Lastwagens zu verlassen, und einige von uns in Tränen ausbrachen. In einer dichten Gruppe standen wir nackt und stinkend neben dem großen Lastwagen, sahen unser kleines Ganzes, unser Nacht- Ganzes, plötzlich dem hellen, grausamen Tageslicht ausgesetzt. Man riß uns auseinander, befahl uns, eine Reihe zu bilden, und führte uns zu einem wenige hundert Meter entfernten Gebäude. Die stählernen Wände und das schneebedeckte Dach des Gebäudes, die weite Schnee-Ebene rings um uns, die riesige Bergkette, die unter der aufgehenden Sonne lag, der hohe Himmel — alles schien unter einem Übermaß an Licht zu flimmern und zu glitzern.
Wir mußten uns aufstellen und an einem großen Trog in einer Holzhütte waschen; alle tranken sich zunächst an ihrem Waschwasser satt. Danach wurden wir ins Hauptgebäude geführt, wo wir Unterzeug, graue Filzhemden, Kniehosen, Gamaschen und Filzstiefel erhielten. Ein Wachtposten hakte, als wir in den Eßsaal gingen, auf einer Liste unsere Namen ab. Mit hundert oder mehr anderen, ebenfalls in Grau gekleideten Gefangenen saßen wir an festgeschraubten Tischen und verschlangen das Frühstück: Grütze mit lauwarmem Bier. Anschließend wurden wir alle, die alten und die neuen Sträflinge, in Zwölfergruppen eingeteilt. Meine Gruppe wurde zu einer Sägemühle gebracht, die Wenige hundert Meter hinter dem Hauptgebäude, aber noch innerhalb des Zauns lag. Außerhalb des Zauns, in nur geringer Entfernung vom Lager, begann ein Wald, der sich, so weit das Auge reichte, nach Norden, über die Hügel erstreckte. Unter der Aufsicht eines Wachtpostens trugen wir zurechtgesägte Bretter von der Mühle zu einem riesigen Schuppen, wo wir sie für den Winter zum Trocknen stapelten.
Nach all den Tagen in unserem Lastwagen fiel es uns schwer, zu gehen, uns zu bücken und Lasten zu heben. Man duldete nicht, daß wir müßig herumstanden, zwang uns aber auch nicht zu schnellerem Tempo. Um die Mittagszeit erhielten wir einen Becher orsh, ein unfermentiertes Korngebräu. Vor Sonnenuntergang wurden wir zu den Baracken zurückgeführt und bekamen das Abendbrot: Grütze mit ein bißchen Gemüse und dazu Bier. Bei Anbruch der Dunkelheit wurden wir im Schlafsaal eingeschlossen, in dem man die ganze Nacht über das Licht brennen ließ. Wir schliefen auf ein Meter fünfzig tiefen Regalen aus Brettern, die sich zweistöckig an den Wänden des Saales entlangzogen. Die alten Insassen stürzten sich auf die obere Reihe — die bessere, da Wärme bekanntlich nach oben steigt. Als Bettzeug erhielt jeder von uns an der Tür einen Schlafsack ausgehändigt, grobe, sehr schwere Säcke, die noch vom Schweiß früherer Benutzer stanken, aber gut isoliert waren und warm hielten. Der Nachteil für mich bestand darin, daß sie zu kurz waren. Ein durchschnittlich großer Gethenianer konnte sich bis über den Kopf darin verkriechen, ich aber konnte mich nicht einmal auf dem Schlafbrett ganz ausstrecken.
Das Lager hieß ›Dritte Freiwilligenfarm‹ und unterstand der Neusiedlungsagentur der Commensality Pulefen. Pulefen, Distrikt dreißig, liegt im äußersten Nordwesten der bewohnbaren Zone Orgoreyns und wird begrenzt von den Sembensyen-Bergen, dem Esagel-Fluß und der Küste. Es ist ein nur dünn besiedeltes Gebiet, in dem es keine größeren Städte gibt. Die unserem Lager nächste Ortschaft hieß Turuf und war mehrere Meilen in südwestlicher Richtung entfernt; ich habe sie nie zu sehen bekommen. Die Farm lag am Rand einer großen, unbewohnten Waldregion namens Tarrenpeth. Da so hoch im Norden die größeren Bäume, die Hemmens, Serems oder schwarzen Vates, nicht mehr wachsen, bestand der ganze Wald aus einer einzigen Baumart, einer knotigen, verkrüppelten, drei bis vier Meter hohen und mit grauen Nadeln besetzten Konifere, der thore. Obgleich die Zahl der auf Winter heimischen Tier- und Pflanzenarten ungewöhnlich klein ist, sind doch die Mitglieder jeder Spezies überaus zahlreich: Und so bestand dieser Wald aus Tausenden von Quadratmeilen, auf denen außer den thore-Bäumen so gut wie gar nichts gedieh. Sogar die Wildnis wird hier sorgfältig gehegt, daher gab es im Wald trotz ständigen jahrhundertelangen Ausholzens keinen Kahlschlag, keine trostlose Baumstumpffläche, keine erodierten Abhänge. Es sah so aus, als sei jeder einzelne Baum gezählt worden, und auch nicht ein Stäubchen Sägemehl von unserer Mühle blieb ungenutzt. Es gehört auch eine kleine Fabrik zu der Farm, und wenn das Wetter so schlecht war, daß die Holzfäller nicht in den Wald gehen konnten, arbeiteten wir in der Mühle oder in der Fabrik und preßten Späne, Rinde und Sägemehl zu den verschiedensten Formen. Aus den getrockneten thore-Nadeln wurde ein Harz extrahiert, das man für Plastikmaterial verwendete.