An ihn erinnere ich mich von allem, was ich auf der Pulefenfarm erlebt und gesehen habe, am deutlichsten. Körperlich war er ein typischer Gethenianer des Großen Kontinents, kräftig gebaut, untersetzt, mit kurzen Armen und Beinen und einer dicken Schicht Fett unter der Haut, die seinem Körper selbst bei der Krankheit eine rundlich Glätte verlieh. Er hatte kleine Hände und Füße, verhältnismäßig breite Hüften und einen tiefen Brustkasten, dessen Brüste kaum mehr entwickelt waren als bei einem Mann meiner eigenen Rasse. Seine Haut war von einer dunklen, rosig- braunen Farbe, sein schwarzes Haar sehr dünn und pelzähnlich. Sein breites Gesicht mit schmalen, kräftigen Zügen hatte deutlich ausgeprägte Wangenknochen. Er war ein Typ, wie man ihn bei verschiedenen isolierten Terranergruppen findet, die in sehr großer Höhe oder in arktischen Gebieten leben. Sein Name war Asra; er war früher Tischler gewesen.
Wir unterhielten uns miteinander.
Asra wehrte sich, wie ich glaube, nicht gegen das Sterben, aber er hatte Angst davor und suchte Ablenkung von dieser Angst.
Im Grunde hatten wir nur die Todesnähe gemeinsam, und gerade das war es, worüber wir nicht sprechen wollten. Deswegen verstanden wir uns zumeist nicht sehr gut. Ihm war alles gleichgültig. Ich dagegen, jünger und nicht so leichtgläubig, wäre für Verständnis, Begreifen, Erklärungen dankbar gewesen. Aber es gab keine Erklärungen. Wir sprachen.
Bei Nacht war unser Barackenschlafsaal hell erleuchtet, voll Menschen und sehr laut. Während des Tages wurden die Lichter gelöscht, und der große Raum lag dämmrig, leer und still. Wir rückten auf dem Schlafbrett eng zusammen und unterhielten uns leise. Am liebsten erzählte Asra lange, komplizierte Geschichten aus seiner Jugendzeit auf einer Commensalfarm im Kunderer-Tal, der weiten, wunderschönen Ebene, durch die ich gekommen war, als ich von der Grenze aus nach Mishnory fuhr. Er sprach einen starken Dialekt und erwähnte viele Bezeichnungen von Menschen, Orten, Gebräuchen und Werkzeugen, deren Bedeutung ich nicht kannte; daher erfaßte ich nicht mehr als die allgemeine Richtung seiner Reminiszenzen. Wenn er sich besser fühlte, gewöhnlich um die Mittagszeit, bat ich ihn um eine Sage oder Legende. Die meisten Gethenianer haben einen Riesenvorrat an solchen Geschichten im Kopf. Ihre Literatur existiert zwar auch in geschriebener Form, ist aber im Grunde eine lebendige, mündliche Tradition, und in diesem Sinne sind sie alle literarisch gebildet. Asra kannte sämtliche Hauptthemen der Orgota: die Meshe-Legenden, das Parsid-Lied, Teile der großen Epen und die romanhafte Seehändler-Saga. All diese, und überdies Bruchstücke seines heimatlichen Märchengutes, an die er sich aus seiner Kinderzeit erinnerte, erzählte er mir in seinem verwaschenen Dialekt, und wenn er müde wurde, bat er zur Abwechslung mich um eine Geschichte.»Was erzählt man sich denn so in Karhide?«fragte er, während er sich die Beine rieb, die ihn mit dumpfen und stechenden Schmerzen quälten, und wandte mir sein Gesicht mit einem scheuen, verstohlenen und geduldigen Lächeln zu.
Einmal antwortete ich:»Ich weiß eine Geschichte von Menschen, die auf einer anderen Welt wohnen.«
»Was für eine Welt könnte das sein?«
»Im großen und ganzen genau so eine wie diese; nur dreht sie sich nicht um diese Sonne, sie dreht sich um einen Stern, den ihr Selemy nennt. Das ist ein gelber Stern, wie die Sonne, und auf dieser Welt, unter dieser Sonne, leben Menschen.«
»Das kommt auch in den Sanovy-Lehren vor, diese Sache mit den anderen Welten. Als ich noch klein war, kam immer ein alter, verrückter Sanovy-Priester in meinen Herd und erzählte uns Kindern, wo die Lügner hinkommen, wenn sie sterben, und wo die Selbstmörder hinkommen, und wo die Diebe hinkommen… Dahin werden wir beide wohl auch kommen, nicht wahr — auf eine von diesen fernen Welten?«
»Nein. Was ich meine, das ist keine Geisterwelt, sondern eine wirkliche. Die Menschen, die dort wohnen, sind wirkliche Menschen, sie leben wirklich, genau wie hier. Aber sie haben vor sehr langer Zeit das Fliegen erlernt.«
Asra lächelte nachsichtig.
»Nicht so, daß sie mit ihren Armen schlagen — nein, sie fliegen in großen Maschinen, die ganz ähnlich sind wie hier die Autos.«Aber das ließ sich in Orgota nur schwer ausdrücken, da es kein Wort gibt, das genau ›fliegen‹ bedeutet. Am nächsten heran kommt man wohl mit einem Wort, das soviel wie ›gleiten‹ heißt.»Sie lernten, Maschinen zu bauen, die über die Luft gleiten wie Schlitten über den Schnee. Und nach einer Weile lernten sie, diese Maschinen so zu bauen, daß sie immer weiter und weiter kamen, bis sie, wie ein Stein aus der Schleuder, von der Erde aus über die Wolken, und dann aus der Luft hinaus bis zu einer anderen Welt kamen und um deren Sonne kreisten. Und als sie zu jener Welt kamen — was fanden sie da? Menschen…«
»Die auf der Luft glitten?«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht… Als sie zu meiner Welt kamen, wußten wir schon, wie man in der Luft herumfahren kann. Aber sie lehrten uns, von einer Welt zur anderen zu gelangen. Bis dahin hatten wir noch nicht die richtigen Maschinen dafür.«
Die Einführung des Erzählers in die Erzählung verwirrte Asra. Ich hatte Fieber, litt unter den Schwären, die als Folge der Drogeninjektionen meine Brust und meine Arme bedeckten und näßten, und konnte mich nicht mehr erinnern, wie ich den Faden hatte weiterspinnen wollen.
»Erzähl doch weiter«, forderte er mich auf, bemüht, einen Sinn in meine Erzählung zu bringen.»Was taten sie denn noch, außer in der Luft herumzufahren?«
»Ach, ungefähr das gleiche wie die Leute hier. Aber sie sind ununterbrochen in Kemmer.«
Er kicherte. So, wie wir leben mußten, gab es natürlich keine Möglichkeit, irgend etwas zu verbergen, und daher lautete mein Spitzname bei den Gefangenen und Wärtern unvermeidlicherweise ›der Perverse‹. Doch wo es weder Scham noch Begehren gibt, wird keiner, so anomal er auch immer sein mochte, von den anderen ausgestoßen; darum glaube ich nicht, daß Asra diese Vorstellung mit mir und meinen charakteristischen Eigenheiten in Verbindung brachte. Er sah sie lediglich als Variation eines uralten Themas. Deswegen kicherte er also ein bißchen und sagte:»Ununterbrochen in Kemmer? Ist diese Welt dann also eine Belohnung? Oder ist sie eine Strafe?«
»Das weiß ich nicht, Asra. Was ist die Welt, auf der wir jetzt sind?«
»Keines von beiden, mein Kind. Sie ist ganz einfach die Welt, mehr nicht. Man wird in sie hineingeboren, und… Die Dinge sind eben so, wie sie sind…«
»Ich wurde nicht in sie hineingeboren. Ich bin zu ihr gekommen. Ich habe sie mir gewählt.«
Das Schweigen und der Schatten umgaben uns. Weit in der Ferne, im Schweigen des Landes hinter den Barackenwänden, ertönte ein leises, scharfes Geräusch: das Kreischen einer Handsäge. Sonst nichts.
»Na ja… Na ja…«, murmelte Asra seufzend und rieb sich mit leisen Stöhnen die Beine, dessen er sich wohl nicht bewußt war.»Keiner von uns kann wählen.«
Ein oder zwei Tage danach fiel er ins Koma und starb kurz darauf. Ich hatte niemals erfahren, warum man ihn auf die Freiwilligenfarm geschickt hatte, für welches Verbrechen, für welchen Fehler oder für welchen Irrtum in seinen Personalpapieren; ich wußte nur, daß er weniger als ein Jahr auf der Pulefenfarm gewesen war.