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Fast hätte ich die Schlittenstange losgelassen, um nach ihm zu suchen; es war reiner Zufall, daß ich es nicht tat. Statt dessen hielt ich mich fest, während ich verdutzt nach ihm Ausschau hielt, und entdeckte schließlich den Rand einer Eisspalte nur dadurch, daß ein weiteres Stück der eingestürzten Schneebrücke abbrach und in die Tiefe fiel. Estraven war mit den Füßen voran abgestürzt, und nur mein Gewicht verhinderte, daß auch der Schlitten nachrutschte: Er stand nur noch mit einem Drittel der Kufen auf festem Eisboden. Und Estraven, der im Geschirr über dem Abgrund hing, zog ihn mit seinem Gewicht Zentimeter um Zentimeter hinab.

Ich legte mich mit voller Kraft auf die Schlittenstange und zog, zerrte und stemmte den Schlitten vom Rand der Spalte zurück. Es ging sehr schwer, aber ich warf mein ganzes Gewicht gegen den Zug nach unten und ließ nicht nach, bis er sich endlich widerwillig zu rühren begann und plötzlich und unvermittelt ganz wieder auf dem Eis stand. Estraven hatte den Rand der Spalte gepackt und half mir, indem er so das Gewicht verringerte. Auf allen Vieren kam er, vom Geschirr gezogen, über die Kante heraufgerutscht, versuchte sich aufzurichten und brach plötzlich zusammen.

Ich kniete mich neben ihn nieder, um ihn aus dem Geschirr zu lösen. Ich war beunruhigt, weil er so regungslos dalag und nur seine Brust sich in tiefen, keuchenden Atemzügen hob und senkte. Seine Lippen waren blau, die eine Gesichtshälfte verschwollen und zerschrammt.

Benommen richtete er sich auf und flüsterte zwischen rasselnden Atemzügen:»Blau… ganz blau… Hohe Türme in der Tiefe…«

»Was?«

»In der Spalte. Ganz blau… Voller Licht.«

»Geht es dir besser?«

Er schnallte das Geschirr wieder um.

»Du gehst jetzt voraus… angeseilt… mit dem Stock«, keuchte er.»Du suchst den Weg.«

Und so marschierten wir stundenlang weiter, der eine ziehend, der andere schiebend und lenkend. Vor jedem Schritt sondierten wir den Boden zuerst mit dem Stock und kamen daher nur im Schneckentempo voran. Bei diesem weißen Wetter erkannte man eine Spalte erst, wenn man direkt von oben in sie hineinsah — ein bißchen zu spät, denn der Rand hing bei allen etwas über und war nur selten wirklich fest. Jeder Schritt war für uns eine Überraschung: entweder höher oder tiefer als erwartet. Es gab keine Schatten. Nur eine glatte, weiße, geräuschlose Kugel. Wir bewegten uns wie in einer riesigen Kugel aus dickem Milchglas. Innerhalb dieser Kugel war nichts, und außerhalb dieser Kugel war nichts. Aber das Glas hatte zahlreiche Sprünge. Sondieren — Schritt, Sondieren — Schritt. Vorsichtiges Abtasten nach diesen unsichtbaren Rissen, durch die man aus der weißen Glaskugel herausfallen und fallen und fallen und fallen würde… Nach und nach wurden alle meine Muskeln von einem Krampf gepackt, der sich nicht lösen wollte, so daß es mir fast unmöglich wurde, auch nur einen einzigen Schritt weiterzugehen.

»Was ist denn, Genry?«

Ich stand da, regungslos, mitten im Nichts. Tränen traten mir in die Augen und froren meine Lider zu. Ich sagte:»Ich habe Angst, daß ich abstürze.«

»Aber du bist doch angeseilt«, erwiderte er. Dann kam er nach vorn, sah, daß nirgends eine Gletscherspalte zu entdecken war, und wußte sofort, was mit mir los war.»Wir schlagen das Lager auf«, erklärte er.

»Aber es ist doch noch viel zu früh. Wir müssen weiter!«

Er löste bereits die Verschnürungen der Zeltplane.

Später, als wir gegessen hatten, sagte er:»Es war wirklich Zeit, daß wir haltmachten. Ich glaube kaum, daß wir auf dieser Route weiterkommen. Das Eis scheint sich allmählich zu senken und wird von jetzt an überall verrottet und von Spalten durchzogen sein. Wenn wir etwas sehen könnten, dann würden wir es schaffen. Im Unschatten aber schaffen wir es auf keinen Fall.«

»Und wie sollen wir zu den Shenshey-Sümpfen hinunterkommen?«

»Also, wenn wir uns wieder nach Osten halten, anstatt nach Süden zu gehen, dann wäre es möglich, daß wir auf dem guten Eis ganz bis zur Guthen-Bucht kommen. Im Sommer, als ich mit einem Boot auf dem Wasser war, habe ich das Eis einmal von der Bucht aus gesehen. Es stößt bis an die Roten Berge und ergießt sich in Eisströmen in die Bucht. Wenn wir auf einem dieser Gletscher absteigen, könnten wir auf der zugefrorenen Bucht in südlicher Richtung bis nach Karhide laufen und das Land statt über die Grenze, an der Küste betreten, was für unsere Zwecke vermutlich sogar besser wäre. Allerdings verlängert diese Route unseren Weg um einige Meilen — um zwanzig bis fünfzig, würde ich sagen. Was meinst du dazu, Genry?«

»Ich meine, daß ich in diesem weißen Wetter nicht einmal mehr zehn Meter schaffe.«

»Aber wenn wir aus dem Gebiet der Gletscherspalten heraus sind…«

»Oh, wenn wir aus dem Gebiet der Gletscherspalten heraus sind, geht es mir fabelhaft! Und wenn dann die Sonne wieder zum Vorschein kommt, setzt du dich auf den Schlitten und ich ziehe dich kostenlos bis nach Karhide.«Das war einer unserer für dieses Stadium der Reise typischen Versuche, Humor zu zeigen; unsere Scherze mochten zwar reichlich dumm sein, aber zuweilen gelang es uns damit, den anderen zum Lächeln zu bringen.»Mir fehlt überhaupt nichts«, fuhr ich fort.»Nichts, außer einer akuten, chronischen Angst.«

»Angst ist etwas sehr nützliches. Genau wie die Dunkelheit; genau wie der Schatten.«Estravens Lächeln wirkte in dem sich schälenden, rissigen, braunen Gesicht wie ein häßlicher Spalt in einer von schwarzem Pelz umrahmten und mit zwei schwarzen Steinen verzierten Maske.»Sonderbar, daß das Tageslicht nicht genügt! Um gehen zu können, brauchen wir den Schatten.«

»Gib mir mal eben dein Notizbuch.«

Er hatte gerade den Reisebericht für heute geschrieben und einige Kalkulationen über Entfernungen und Rationen angestellt. Jetzt schob er das kleine Büchlein und den Kohlestift um den Chabe-Ofen herum zu mir. Ich schlug es ganz hinten auf und zeichnete auf das Blatt, das fest auf den hinteren Deckel geklebt war, den Kreis mit der Doppelkurve darin. Die Yin-Hälfte des Symbols malte ich schwarz, dann schob ich das Buch wieder zu ihm zurück.»Kennst du dieses Zeichen?«