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Wir liefen auf unseren Skiern durch kleine, reifüberzogene Wäldchen und über die Hügel und Felder des umstrittenen Tals. Hier gab es keinen Schutz, kein Versteck. Nur einen strahlend blauen Himmel, eine grelle, weiße Welt und dazwischen wir beiden fliehenden Schatten. Hügeliges Gelände verbarg die Grenze vor unseren Blicken, bis wir auf eine Achtelmeile an sie herangekommen waren: dann lag sie jedoch auf einmal vor uns, deutlich durch einen Zaun markiert, dessen Pfahlspitzen bis auf einen halben Meter im Schnee versunken waren. Die Pfahlspitzen waren rot gestrichen. Auf der Orgota-Seite zeigten sich keine Wachen, doch auf der Karhide-Seite entdeckten wir Skispuren und weiter südlich mehrere kleine, sich bewegende Gestalten.

»Auf unserer Seite sind Wachtposten. Du wirst wohl warten müssen, bis es dunkel wird, Therem.«

»Das sind Tibes Inspektoren«, keuchte er bitter und schwang ab.

Wir jagten über die kleine Erhebung zurück, die wir gerade überquert hatten, und gingen so schnell wie möglich in Deckung. Dort, in einer Mulde unter den dicht wachsenden Hemmen-Bäumen, verbrachten wir, von ihren rötlichen, tief unter der Schneelast herabgebogenen Ästen geschützt, den ganzen langen Tag. Wir diskutierten so manchen Plan: an der Grenze entlang nach Norden oder nach Süden zu fahren, um aus dieser besonders gefährlichen Zone herauszukommen; in die Berge östlich von Sassinoth zu fliehen; oder sogar wieder nach Norden in unbewohntes Gebiet zurückzukehren. Doch gegen alle diese Pläne gab es schwerwiegende Einwände. Estravens Anwesenheit hier war verraten worden, daher konnten wir nicht, wie bisher, frei und offen in Karhide herumreisen. Und heimlich kamen wir überhaupt nicht weiter: wir hatten kein Zelt, keinen Proviant und nicht mehr viel Kraft. Es gab keine andere Möglichkeit als eine direkte Flucht über die Grenze; es stand uns kein anderer Weg mehr offen.

Wir kauerten uns tief in die dunkle Grube unter den dunklen Bäumen, duckten uns tief in den weichen Schnee. Wir preßten uns aneinander, um dadurch etwas mehr Wärme zu finden. Gegen Mittag schlummerte Estraven eine Zeitlang ein, ich aber war zu hungrig und zu durchfroren, um schlafen zu können; ich lag in einer Art Stupor neben meinem Freund und versuchte mir die Worte ins Gedächtnis zurückzurufen, die er damals zitiert hatte: ›Zwei sind eins, Leben und Tod, sie liegen beisammen…‹ Es war ein bißchen wie in dem Zelt auf dem großen Eis, nur ohne Obdach, ohne Nahrung und ohne Ruhe: nichts war uns geblieben, als unsere Gemeinsamkeit, und auch die sollte binnen kurzem enden.

Im Laufe des Nachmittags zog sich ein Schleier über den Himmel, die Temperatur begann zu sinken, und sogar in dieser windstillen Mulde wurde es bald zu kalt, um stillzusitzen. Wir mußten uns unbedingt bewegen. Trotzdem wurde ich gegen Sonnenuntergang, genau wie damals, als wir im Gefangenenwagen quer durch Orgoreyn fuhren, von Anfällen krampfartigen Zitterns gepackt und durchgeschüttelt. Der Abend schien ewig auf sich warten zu lassen. Im bläulichen Zwielicht verließen wir die Mulde und schlichen uns, immer wieder hinter Bäume und Büsche geduckt, über den Hügel, bis wir die Reihe der Grenzpfähle — verschwommene dunkle Tupfer auf dem bleichen Schnee — vor uns ausmachen konnten. Kein Licht, keine Bewegung, kein einziger Laut. Weit im Südwesten schimmerte der gelbliche Widerschein einer kleinen Ortschaft, eines winzigen Commensal-Dorfes von Orgoreyn, wohin Estraven mit seinen fragwürdigen Personalpapieren fliehen und wenigstens sicher sein konnte, eine Nacht im Commensal-Gefängnis oder auch auf der nächstgelegenen Commensal-Freiwilligenfarm verbringen zu dürfen. Und plötzlich — jetzt erst, hier, im allerletzten Augenblick — erkannte ich, was meine Selbstsucht und Estravens Schweigen bis dahin vor mir verborgen hatten: wohin er ging, und auf was er sich einließ.»Therem«, sagte ich,»warte doch…«

Er aber war schon auf und davon, in Schußfahrt den Hang hinab: ein großartiger Skiläufer, diesmal brauchte er nicht auf mich zu warten. In langen, flinken Schwüngen schoß er durch die Schatten über den Schnee. Er lief mir davon — direkt in die Gewehre der Grenzwachen hinein. Ich glaube, sie riefen ihm noch eine Warnung oder einen Befehl zum Stehenbleiben nach, aber das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Auf jeden Fall hielt er nicht an, sondern flog weiter auf den Grenzzaun zu, und sie erschossen ihn, bevor er ihn ganz erreicht hatte. Sie schossen nicht mit Schallbetäubungsgewehren, sondern mit dem Streitgewehr, jener uralten Waffe, die mit gewaltiger Beschleunigung einen Hagel von Metallstückchen abfeuert. Sie wollten ihn töten. Als ich ihn erreichte, lag er im Sterben: lang ausgestreckt, die Skier hatte er verloren, einer war abgebrochen und ragte neben ihm aus dem Schnee. Die Metallstücke hatten an mehreren Stellen seine Brust zerfetzt. Er blutete stark. Ich nahm seinen Kopf in die Arme und sprach, mit ihm, aber er antwortete mir nicht mehr. In gewisser Weise antwortete er noch auf meine Liebe zu ihm: Als ihm schon das Bewußtsein schwand, rief sein sterbendes Gehirn klar und deutlich: »Arek!« Sonst nichts. Ich hockte im Schnee und hielt ihn immer noch in meinen Armen, als er schon längst tot war. Sie ließen mich eine Zeitlang gewähren. Dann befahlen sie mir, aufzustehen, und brachten uns beide fort: mich in die eine Richtung, ihn in die andere; mich ins Gefängnis, ihn ins Dunkel.

ZWANZIGSTES KAPITEL

Vergebliche Reise

Irgendwo in den Tagebuchaufzeichnungen, die Estraven während unseres Trecks über das Gobrin-Eis niederschrieb, überlegt er, warum sich sein Begleiter schämt, wenn er weinen muß. Ich hätte ihm schon damals erklären können, daß es sich dabei weniger um Scham, sondern weit eher um Furcht handelte. Jetzt ging ich durch das Sinoth-Tal, durch den Abend seines Todes in ein kaltes Land, das jenseits aller Ängste liegt. Dort kann man, wie ich erkennen mußte, soviel und so lange weinen, bis die Augen versiegen, aber es hilft nichts.

Ich wurde nach Sassinoth gebracht und dort ins Gefängnis gesteckt — erstens, weil man mich in Begleitung eines Geächteten angetroffen hatte, und zweitens vermutlich, weil sie nicht wußten, was sie sonst mit mir anfangen sollten. Von Anfang an, auch ehe der offizielle Befehl von Erhenrang kam, wurde ich sehr gut behandelt. Meine Gefängniszelle in Karhide war ein möbliertes Zimmer im Turm der gewählten Lords von Sassinoth; ich hatte einen Kamin, ein Radio und täglich fünf große Mahlzeiten. Aber wohl fühlte ich mich nicht. Das Bett war hart, die Decken dünn, der Fußboden kahl, die Luft sehr kalt — genau wie in jedem anderen Raum in Karhide. Aber man schickte mir einen Arzt, dessen Hände und Stimme mehr für mein Wohlbefinden taten, als alle Bequemlichkeiten von Orgoreyn. Nachdem er bei mir gewesen war, wurde, so glaube ich, die Tür nicht wieder verschlossen. Ich erinnere mich deutlich, daß sie weit offen stand, und daß ich wünschte, sie wäre geschlossen, weil ein sehr kalter Luftzug vom Gang hereinwehte. Aber ich hatte weder die Kraft noch den Mut, aus dem Bett zu steigen und die Tür meines Gefängnisses selbst zu schließen.

Der Arzt, ein gravitätischer, mütterlicher junger Bursche, erklärte mir in friedfertigem, keinen Widerspruch zulassendem Ton:»Sie sind seit fünf bis sechs Monaten unterernährt und körperlich völlig erschöpft. Sie haben Ihre Kräfte restlos verbraucht. Sie haben keine Reserven mehr. Legen Sie sich also hin, ruhen Sie sich aus. Bleiben Sie liegen, als wären sie ein Fluß im Winter, der zugefroren ist. Liegen Sie ganz still. Und warten Sie.«

Doch wenn ich schlief, war ich jedesmal wieder in dem Lastwagen, in dem ich mich mit den anderen zusammen niederkauerte und uns aneinanderschmiegten — wir alle stinkend, zitternd, nackt, beieinander Wärme suchend. Alle, bis auf den einen. Dieser eine, der Kalte, lag ganz allein an der verriegelten Tür und hatte den Mund voll geronnenem Blut. Er war der Verräter. Er hatte sich ganz allein davongemacht, uns im Stich gelassen, mich im Stich gelassen. Ich wachte auf, von Zorn geschüttelt, von einem schwächlichen, zittrigen Zorn geschüttelt, der sich in schwächlichen Tränen auflöste.