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•Putin ist Geschäftsmann und ein Freund des Business. Nicht mehr und nicht weniger. Eine Auslegung dieser These findet sich weiter unten.

•WWP (wie man den russischen Präsidenten auch nennt) hat weder die unter Jelzin entstandene Oligarchie noch den Einfluss der mächtigsten Unternehmer der 1990er-Jahre zerstört. Im Gegenteil – die Oligarchen der Jelzin-Zeit wurden unter Putin noch stärker und reicher. Es gibt einige Ausnahmen, aber sie bestätigen nur die Regel.

•Putin hat nie die für Russland legendäre Machtvertikale geschaffen, über die so viel geschrieben und gesagt wurde. Unter ihm entstand eine Horizontale der Macht, die aus einer unzählbaren Menge von Gewaltzentren besteht. In jedem dieser Zentren, die das große Geld mit der zivilen und staatlichen Bürokratie vereinen, entsteht die russische Macht, hier lebt sie und stirbt von Zeit zu Zeit ab. Von vielen Entscheidungen, die an den Knotenpunkten dieser Horizontalen getroffen werden, erfährt Putin als Letzter oder nie. Die Philosophen der Postmoderne würden ein solches Machtmodell »rhizomatisch« nennen, ein System­administrator »verlinkt«. Auf keinen Fall jedoch kann man von einer strengen Hierarchie sprechen, an deren Spitze Putin steht, so wie heute die Mehrheit der Menschheit denkt.

•Putin war nie ein Imperialist und ist es auch heute nicht. Er ist ein Kleinbürger, dem imperiale Ausmaße Angst machen, wenn es um Ideen, Konzepte, Maßnahmen, Gegenmaßnahmen oder andere langfristige Entscheidungen geht. Keines der bisherigen russischen Staatsoberhäupter hat so viel zum Zerfall des Russischen Imperiums und zur Umwandlung des Landes in einen Nationalstaat europäischen Musters beigetragen, wozu die freiwillige und unfreiwillige Diskreditierung von imperialen Symbolen gehört, die den Russen bereits in Fleisch und Blut übergegangen sind. Darin liegt ja das Paradox: Indem er die imperialen Symbole konserviert, setzte er die zügellose Kraft des imperialen Zerfalls frei.

•Putin ist antisowjetisch. Alles Graue und Grässliche, was an die Sowjetunion erinnert, ist ihm zuwider. Und sei es nur deshalb, weil er in der Tragödie der UdSSR ein Pechvogel war, während er im Vaudeville der Russischen Föderation ein mustergültiger Glücksritter wurde.

•Putin ist russophob. Und zwar ganz klassisch und par excellence, als habe er sich aus einer wissenschaftlichen Broschüre materialisiert. Das russische Volk betrachtet er äußerst kritisch, er traut ihm keine kontinuierliche schöpferische Tätigkeit zu. Putin meint, die Russen seien untätige Schwärmer. Wahrscheinlich würde er der These zustimmen, dass die Russen Heilige sein können, dabei aber unredlich sind, wie der russische Denker Konstantin Leontjew es formulierte. Wie aber soll man einen modernen Kapitalismus aufbauen, wenn es an der banalen, langweiligen, bourgeoisen Ehrlichkeit mangelt? Putin meint, sowohl die Macht als auch die Philosophie in Russland müssten deutsch sein. Bleibt nur die Frage, wie man das erreicht.

•Putin hat keinen der Kriege gegen Tschetschenien angefangen. Er hat weder Anna Politkowskaja noch Alexander Litwinenko umgebracht. Generell ist er kein Mörder, weder von seinen Intentionen noch von seiner Mentalität her. Und wenn er dennoch Mordbefehle ausgegeben hat oder davon wusste, dass sie einem seiner Freunde erteilt wurden, hat er dabei stets Augen und Ohren verschlossen.

•Putin ist kein Macho und kein atemberaubender Liebhaber. Er ist ein Held der geschlechtlichen Einsamkeit mit unklarer (oder wie man es gebildet ausdrückt: amorpher) Sexualität. Die Mehrzahl der Gerüchte über seine Eroberungen und Affären sind Werbetricks, die mal besser funktionieren (wie zum Beispiel die Affäre mit der Kunstturnerin Alina Kabajewa, an der niemand zweifelt) und mal schlechter (die Affäre mit der Sängerin Anna Netrebko, an der sogar die zweifeln, die wissen, dass es eine solche Opernsängerin gibt).

•Putin ist Idealist. Er glaubt aufrichtig, für das gegenwärtige Russland und unter den gegebenen Umständen ein guter Regierungschef zu sein – kein großartiger, kein glänzender, sondern ein ordentlicher und solider. Er hat weder das Land betrogen noch diejenigen, die ihn in sein Amt gebracht haben. Vielleicht hat er damit gar nicht so unrecht.

•Von Putin ist alles Mögliche zu erwarten, nur keine radikalen Reformen. Die vorherrschende Idee seiner Staatsführung ist, nichts zu »verschütten«, damit er, gemessen an einer gewissen Auswahl formaler Kriterien, nach seiner Regierungszeit nicht schlechter dasteht als vorher. Boris Jelzin gab ihm die Worte mit auf den Weg: »Behüten Sie Russland!«, und WWP hat das ganz wörtlich genommen, ohne darin einen Hauch von Ironie oder Zynismus zu sehen. Deswegen muss man sich die hundertsiebenundzwanzigste Beteuerung des russischen Präsidenten, es stünden »Veränderung des russischen Wirtschaftsmodells« oder »massenhafte Verhaftungen korrupter Beamten« an, gar nicht mehr anhören. Putin ist ein träger Herrscher. Nie würde er das Alte gegen etwas Neues tauschen, wenn das Alte immer noch funktioniert, selbst mit gewissen Störungen, und wenn es wie eine Ölpipeline und der Ölpreis den Erfolg sichert. Selbstverständlich gibt es Ausnahmen von dieser These, zum Beispiel die Auflösung der Russischen Akademie der Wissenschaften, die von Putin und seinem Ministerpräsidenten Dmitri Medwedew 2013 zielstrebig durchgeboxt wurde. Aber auch hier bestätigt die Ausnahme nur die Regel.

•Putin ist ein Hüter oder, wenn man so will, ein Bewacher. Von einem solchen Menschen darf man nicht erwarten, dass er die geschichtliche Entwicklung vorantreibt.

•Sein Leben lang hat Putin einen Vater und einen Sohn gesucht. Nicht im biblischen, sondern im einfachen, menschlichen Sinn. Was das genau bedeutet, wird später in diesem Buch behandelt.

•Putin ist ein artifizieller »kleiner Mann«, »ein klitzekleiner Held« der großen russischen Literatur. Daraus schöpft er seine Kraft, wenn diesen Gedanken bisher auch nur wenige nachvollziehen können.

•Es gibt nichts Absurderes als die Idee, man müsse Putin oder die esoterische »Putin-Bande« (deren Zusammensetzung niemandem genau bekannt ist) beim Gerichtshof von Den Haag oder anderswo anklagen. Der zweite wie auch vierte russische Präsident hat eher Mitleid verdient als ein Gerichtsverfahren. Und wenn bemitleidet zu werden für einen Mann das härteste Urteil ist, dann steht ihm ein Mitleidsgericht zu.

•Und schließlich das Wichtigste für den deutschen Leser: Auf dem russischen Thron saß noch nie ein Herrscher, der für Westeuropa passender und vorteilhafter gewesen wäre als Putin. Der pragmatische Teil Europas hat davon Gebrauch gemacht, der unpragmatische Teil hat diese Tatsache einfach übersehen.

Erinnern Sie sich an den Hollywood-Film The Man Who Wasn’t There der Brüder Ethan und Joel Coen? Die Hauptrolle wurde auf glänzende Weise von Billy Bob Thornton gespielt. Seinem Helden werden alle realen Vergehen und Fehler verziehen, aber man verurteilt ihn wegen eines Mordes, den er gar nicht begangen hat. Etwas in dieser Art versucht die Weltöffentlichkeit auch mit Putin zu machen.

Im Finale dieses Films stellt ein entfernter Verwandter des Protagonisten die rhetorische Frage: »What kind of man are you?« Auf diese Frage hat auch in Putins Fall seit seiner Inthronisierung niemand eine Antwort gefunden. Bereits im Februar 2000 auf dem Forum von Davos fragte die internationale Beobachterin und Kolumnistin des Philadelphia Inquirer, Trudy Rubin, die gesamte russische Delegation unter der Leitung des damaligen Ministerpräsidenten Michail Kassjanow, der imposant ist wie ein Vintage-Cadillac: »Who is Mister Putin?« Die Delegation blieb eine Antwort schuldig.

Wenn Sie die oben genannten Thesen glauben, brauchen Sie das Buch nicht weiterzulesen. Dann habe ich mein Ziel schon erreicht, und Sie und ich haben die Schlacht gegen die Zeit gewonnen, die Wladimir Putin übrigens dramatisch verloren hat. Seine besten Jahre, ab 47 bis etwa 60 und länger, hat er vollständig einer Sache gewidmet, die er nicht mochte: der Macht in Russland.