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Sei es Krieg, sei es Pest, das alles wird bald enden

Ihr Richterspruch ist schon bekannt

Allein, wer kann den Schrecken wenden

Den wir den Lauf der Zeit genannt …

Anna Achmatowa

Wenn Sie aber weiterlesen wollen, dann tun Sie das unbedingt. Bevor wir uns die Last aufbürden, alle diese unglaublichen Thesen zu beweisen, stellen wir uns eine weitere, einleitende Frage: Wie kam WWP an der Wende des Jahrhunderts und des Jahrtausends überhaupt an die Macht?

Viele sogenannte Fachleute (im Wesentlichen Politologen) sind durch ein eindeutig konspiratives Denken befangen. Sie meinen, dass alle wichtigen historischen Entscheidungen im Verlauf eines tödlichen Kampfs mächtiger Clans um das große Geld und den Gebrauch tödlicher Waffen, um Viren und Gifte getroffen werden. Sie denken in den Kategorien einer Welt, in der die Freimaurer ständig die Rosenkreuzer schlachten und umgekehrt, die Rockefellers die Rothschilds und umgekehrt, und aus dieser endlosen Schlachterei schält sich letztlich die Weltmacht heraus, die sich von der Eingangshalle des Washingtoner Hotels Willard (wo, wie man meint, der moderne Lobbyismus entstand) bis in die Dschungel von Kambodscha erstreckt.

Deswegen gehen sie davon aus, dass Putin von einer geheimen KGB-Lobby in den Kreml geschleust wurde, welche die demokratischen »bösen« 1990er-Jahre überstehen konnte. Andere hängen ausnahmslos alles der Familie des ersten russischen Präsidenten Boris Jelzin an, die in Wladimir Putin unverhofft eine verwandte Seele erkannt hatte. Bei der Analyse derartiger Dinge halte ich mich an eine Regel, die ich ganz bescheiden das »Belkowski-Gesetz« nenne: In der Geschichte passiert immer das, was passieren muss.

Der bekannte russische Denker des 19. Jahrhunderts Konstantin Leontjew hat gesagt, dass die Zivilisation in den verschiedenen Stadien ihrer Entwicklung qualitativ verschiedene Typen von Herrschern braucht. Wenn sich eine Zivilisation im Aufstieg befindet, wenn sie wächst und an Kraft gewinnt, braucht sie große Reformatoren und mutige Abenteurer, die in der Lage sind, die Geschichte voranzutreiben. In derartigen Epochen braucht man einen Titanen wie Prometheus, der bereit ist, den Göttern das Feuer zu stehlen, es den Menschen zu geben und im Kaukasus seine Leber dem Adler Ethon preiszugeben.

Wenn sich jedoch eine Zivilisation im Niedergang befindet, braucht sie einen Herrscher, der behutsam, langsam und skeptisch ist. Er kann und will den Prozess eher einfrieren als in Bewegung setzen. »Nichts verschütten«, so haben wir bereits die inoffizielle Devise von Präsident Putin definiert. Er will viel eher auf die Bremse treten als aufs Gaspedal und ist also kein Prometheus, sondern ein Titan mit einer anderen Bestimmung. Er ist der Bruder von Prometheus – Epimetheus. Nicht der, welcher das Feuer bringt, sondern der, welcher den Herd hütet, in dem dieses Feuer bereits brennt – damit es nicht erlischt.

Wie wir aus der altgriechischen Mythologie wissen, hat Prometheus die Menschheit mit aller Entschlossenheit vorangebracht, ohne an die Risiken und Gefahren für seine eigene Person zu denken. Erstens brachte er den Menschen das Feuer und gab damit den Startschuss für die Entwicklung von Industrie und Wirtschaft. Zweitens beraubte Prometheus nach Aischylos die Menschen ihrer Vorahnungen und gab ihnen dadurch – die Hoffnung. Und die Hoffnung ist das Wichtigste, was den Menschen in seinem gesellschaftlichen Dasein vorantreibt. Im Grunde genommen besteht die wichtigste Funktion jeder Macht, ob sie nun totalitär oder demokratisch ist, in der Reproduktion von Hoffnungen.

Für alle seine Heldentaten, die Prometheus für die Menschheit vollbrachte, wurde er bekanntlich von Zeus an den Berg Elbrus gekettet. Ganz anders stand es um Epimetheus. Nie verließ er seinen angestammten Ort und war stark, vor allem im Langsamdenken. Allerdings verfiel er der unglücklichen Idee, sich mit einer Dame namens Pandora zusammenzutun. Und die öffnete im entscheidenden Moment ihre Büchse, aus der alle Plagen auf die Welt kamen.

Putin wurde ein solcher Epimetheus auf dem russischen Thron. In jenem historischen Moment, als die Sonne der Zivilisation, die ihren Weg mit der Anwerbung der Waräger ins Nowgorod von 862 begann, zielstrebig auf ihren Untergang zustrebte. Und auch hier gibt es eine Pandora mit ihrer Büchse. Ausgerechnet unter Putin wurde Russland zu einem Land der totalen Korruption. Die Russen haben sich dermaßen an die korrupten Mechanismen gewöhnt, dass man nicht weiß, wie man ihnen das wieder austreiben soll – und zwar ganz unabhängig davon, wie lange der amtierende Präsident noch an der Macht sein und wer ihn ablösen wird.

WWP ist ein klassischer Endzeitherrscher. Man kann sich darüber freuen, man kann es bedauern. Aber ein Ende zeichnet sich auch dadurch aus, dass es frei von Emotionen sein sollte.

Ohne Putin wäre das imperiale Russland schneller zusammengebrochen als mit ihm. Er ist es jedoch auch, der als eingefleischter Antiimperialist diesen Zusammenbruch unumkehrbar gemacht hat. Durch seine Konservierung der imperialen Symbole tat er nichts gegen die Zerstörung des Imperiums selbst. Das mag dem einen oder anderen paradox erscheinen: Er hat den Zerfall des Imperiums aufgehalten und ihn gleichzeitig beschleunigt? Wir werden später darauf zurückkommen.

Nach Putin wird das Land völlig anders aussehen. Es wird vielleicht noch so heißen, aber im Inneren verändert sein. Wie? Weiß der Himmel. Mein Prognose: Anstelle des euroasiatischen Imperiums, welches das russische Volk hat ausbluten lassen, wird ein europäischer Nationalstaat entstehen.

Es gibt mittlerweile weder Zeit noch Raum für eine Fortsetzung der kräfteraubenden Geschichte der Gewalt. Der Wecker des Imperiums kann sein infernalisches, hysterisches Schrillen fortsetzen, wird aber damit nur erreichen, dass die schweren russischen Traumgespinste weitergeträumt werden.

Oft wurde Putin sowohl von Freunden als auch von Feinden mit Napoleon Bonaparte verglichen. Meiner Auffassung nach gibt es zwischen diesen beiden Führungspersonen, dem greisenhaften Hüter des Russischen Imperiums und dem Pionier einer europäischen Union, fast keine Gemeinsamkeiten. Bis auf eine.

Napoleon war ein großer Entscheider. Er konnte die Brücke von Arcole betreten, wo ihn der sichere Tod durch eine österreichische Kugel erwartete, und aus den Händen des Papstes in der Kathedrale Notre-Dame in Paris die eigene Krone empfangen, um eine Sekunde später das Schicksal von Millionen von Menschen zu verändern, die zwischen dem Golf von Biskaya und der Baltischen Bucht beheimatet waren. Dieser kleinwüchsige Korse sagte völlig im Ernst, wobei er sich ein helles Tränchen von den schwarzen Wimpern wischte: »Nie habe ich eine eigene Entscheidung getroffen, immer war ich eine Geisel der Umstände.«

Diese Worte würde Wladimir Putin wohl ohne jede Einschränkung unterschreiben.

Kapitel 1: Die Reise des Okkupanten

Am 7. Mai 2012 geschah etwas gleichermaßen Erstaunliches wie Gewöhnliches – die Amtseinführung des Präsidenten der Russischen Föderation Wladimir Putin. Es war das dritte Mal seit dem Jahr 2000, dass WWP den Kreml-Thron bestieg.

Eine Amtseinführung auf die erste Maiwoche zu legen, ist für das moderne Russland keine besonders gute Idee. Denn die Zeit zwischen dem 1. und dem 8. Mai ist in meinem Land traditionell ein »verlängertes Wochenende«, an dem alle wegfahren, um sich vom beschwerlichen russischen Alltag zu erholen – die einfachen Menschen in ihre Datscha, die Vertreter der Elite meist ins Ausland an warme Meere, wo man surfen oder sich einfach nur sonnen und Mojito trinken kann. Die einen verlassen Moskau in Vorortbahnen mit ihren zerschlagenen Scheiben und zerbrochenen Holzsitzen, die anderen mit dem eigenen Businessjet.