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Als Boris Jelzin am 31. Dezember 1999 vorzeitig in den Ruhestand ging, hatte er die Präsidentschaftswahlen für den 7. März 2000 ausrufen lassen. Außerdem sagt die Verfassung, dass die Amtseinführung des neuen Staatsoberhaupts am 30. Tag nach der offiziellen Verkündigung der Wahlergebnisse durch die Zentrale Wahlkommission der Russischen Föderation erfolgen muss, die wiederum einen Monat nach den Wahlen stattfindet. 1993, als das jetzige Grundgesetz geschrieben wurde, dachten Jelzins Juristen sich diese Vorschrift eigens für den Fall aus, dass der erste demokratisch gewählte Präsident die Wahl verlieren sollte: Man hätte dann Zeit gebraucht, um den Karren aus dem Dreck zu ziehen und die Spuren zu verwischen, nötigenfalls auch einen militärischen Umsturz anzuzetteln, wozu der Liebling der progressiven Öffentlichkeit, Boris Jelzin, von Zeit zu Zeit geneigt war.

Es ist also nicht möglich, einen neuen Präsidenten sofort nach der Niederlage seines Vorgängers in den Kreml zu lassen, solange »das Nest noch warm und der Vogel nah« ist. Und deswegen wird dem Präsidenten erst ganze zwei Monate nach der Wahl der Schwur abgenommen.

Selbstverständlich mussten sich alle geladenen Vertreter der Elite am 7. Mai in Moskau einfinden. Nicht einmal diejenigen, die mit Linienflügen kommen mussten, verspäteten sich. Alle wussten, wie wichtig es ist, sich in Gesellschaft des Präsidenten zu zeigen, der erneut sein Amt antritt, und, falls es sich ergibt, von ihm gesehen zu werden. Da durfte man nicht fehlen! Das Protokoll und der Sicherheitsdienst des Präsidenten hätten es dem Staatsoberhaupt auf jeden Fall gemeldet, und keine Ausrede wäre akzeptiert worden.

Zur Amtseinführung 2012 wurden fast zweitausend offizielle Gäste geladen. Darunter befanden sich gewohnheitsmäßig alle Abgeordneten beider Kammern des russischen Parlaments, Regierungsmitglieder und hochgestellte Mitarbeiter der Präsidentenadministration, die Richter der höchsten Gerichte, Vertreter der wichtigsten Konfessionen sowie die Vorsitzenden aller offiziellen Parteien einschließlich der parlamentarischen Opposition. (Die außerparlamentarische Opposition, die bei der Organisation von Großdemonstrationen gegen Putin mitwirkt, war natürlich nicht geladen.)

Der Präsident hatte auch alle seine sogenannten Vertrauensleute eingeladen – Künstler, Wissenschaftler, Sportler und sonstige lokale Größen, die Putin bei seiner Wahlkampagne zur Seite gestanden hatten, indem sie mit ihrer hohen Popularität die dankbare Wählerschaft bearbeiteten. Wohl kaum jemand im Westen kennt solche Namen wie Stass Michajlow oder Grigory Leps (der eigentlich Lepsweridse heißt und einer der wenigen Georgier ist, die Putin ertragen kann) – im heutigen Russland sind sie die angesagtesten Popsänger. Als Extraröschen auf der Torte fungierten der geschlagene Expräsident Dmitri Medwedew mit seiner Gattin Swetlana und das ebenso gestürzte, erste und letzte Oberhaupt der UdSSR, der Friedensnobelpreisträger Michail Gorbatschow.

Besonders pikant wurde die Veranstaltung auch durch die Anwesenheit persönlicher Freunde Wladimir Putins aus dem Ausland, von denen vor allem der ewige Gerhard Schröder und Silvio Berlusconi zu nennen sind. Für ihre Ankunft wurde im Regierungsflughafen extra ein Terminal reserviert. Schröder und Berlusconi nahmen am Empfang im Kreml entgegen der Amtseinweihungstradition statt, die sich bereits unter Boris Jelzin herausgebildet hatte: ausländische Gäste möglichst nicht zuzulassen. Damit zeigte Putin, dass ihm die persönliche Freundschaft um einiges wichtiger ist als Formalitäten oder Anstand.

Der offizielle Teil der Zeremonie verlief nach dem üblichen Muster und war langweilig. Die Organisatoren des Präsidialamts verwiesen darauf, dass eine Tradition erst entstehen muss und deshalb zunächst einmal nichts verändert werden sollte. Es begann damit, dass die russische Staatsflagge, die Standarte des Präsidenten, die Verfassung und die Kette mit dem symbolischen Anhänger des russischen Präsidenten feierlich in den Andrejewski-Saal des Großen Kremlpalasts getragen wurden.

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Der Große Kremlpalast ist nicht der Ort, an dem der russische Präsident arbeitet. Die dunklen Interieurs aus Nussbaumholz, die man oft im Fernsehen zeigt, gehören zum ehemaligen Senatsgebäude des Imperiums. Der Palast dagegen wird heute vor allem für feierliche Zeremonien und VIP-Exkursionen genutzt. Man kann ihn komplett für ein Fest oder eine Hochzeit mieten, und zwar zum Preis von etwa 1 Million Euro.

Dann legte der gewählte Präsident seinen Treueschwur gegenüber dem russischen Volk ab, wobei er beteuerte, die Verfassung »zu achten und die Rechte und Freiheiten des Menschen und der Bürger zu wahren« (die Versammelten fingen nicht an zu lachen, sonst hätte man es bis weit hinter die Kreml-Mauern gehört), wonach der Vorsitzende des Verfassungsgericht, Waleri Sorkin, den Eintritt Wladimir Putins in das Amt des russischen Staatsoberhaupts verkündete.

Waleri Sorkin ist überhaupt eine bemerkenswerte Figur der neueren russischen Geschichte. 1993 versuchte er, Boris Jelzin in den Ruhestand zu schicken, weswegen er aus der hohen Richterschaft entlassen wurde und in eine lang andauernde Ungnade fiel. 2002 holte ihn Wladimir Putin wieder aus der Mottenkiste hervor, und seitdem ist er für seine Fähigkeit berühmt, alle für den Kreml unabdingbaren Entscheidungen durchzudrücken, egal ob sie verfassungswidrig sind oder nicht. So befand das Hohe Gericht des Landes unter dem Vorsitz von Herrn Sorkin die Abschaffung der Gouvernementswahlen für verfassungstreu, obwohl sie sowohl dem Buchstaben als auch dem Geist des Grundgesetzes des föderalen Staates widersprach.

Nachdem er offiziell zum Präsidenten ernannt worden war, hielt Putin eine Rede, in der er nicht ohne Ironie Dmitri Medwedew für die Gewährleistung der Machtfolge dankte. Er bezeichnete die nächsten Jahre als entscheidend für das Schicksal der kommenden Generationen und sprach von der Notwendigkeit, das Land zum Zentrum der Anziehungskraft von ganz Eurasien zu machen, die Demokratie, die Menschenrechte, die Freiheit zu stärken und für die Einbeziehung der Bürger in die Lenkung des Landes zu sorgen. Keiner glaubte ihm.

Danach fand auf dem Kathedralenplatz der Aufmarsch der Präsidentenwache statt, die an diesem Tag ihr 76-jähriges Bestehen feierte. Die Amtseinführung im Kreml endete mit einem epochalen Ereignis, das von vielen, wenn nicht allen Anwesenden mit hängendem Magen erwartet wurde – einem Bankett. Ein Bankett ist in Russland mehr als nur ein Festschmaus. Alle meine Mitbürger, die älter als dreißig Jahre sind, leiden, auch wenn sie wohlhabend oder sehr reich sind, am Syndrom einer kargen Kindheit. Ständig befürchten wir, in unserem Land, unserer Stadt oder unserem Dorf könnten die Nahrungsmittel ausgehen oder es könnte eine Zeit kommen, in der man Essen für kein Geld der Welt kaufen kann.

Die Älteren unter uns können sich noch an die Zeit unter Chruschtschow oder sogar an die späte Stalin-Zeit erinnern. Ich wiederum erinnere mich gut an die Jahre 1990/91 unter Präsident Michail Gorbatschow, als die Lebensmittel komplett aus den Regalen verschwanden und es nur noch Buchweizen und Hering in Tomatensoße gab. Und wenn auf einmal Wurst auftauchte, egal von welcher Qualität, musste man dafür eine Stunde oder länger in der Schlange stehen. Überhaupt nahm nach Angaben von Soziologen die Wartezeit eines Sowjetmenschen in Lebensmittelschlangen ungefähr 20 Prozent seiner Freizeit und 5 Prozent seiner Lebenszeit ein. Wenn also jemand siebzig Jahre lebte, stand er davon dreieinhalb Jahre in Warteschlangen.

Deswegen ist jeder Empfang oder jedes Bankett, bei dem man sich kostenlos bedienen kann, selbst wenn das Essen nur mittelmäßig ist, ein großes Glück und ein Fest für alle, die am Syndrom einer kargen Kindheit litten. Wir sind es, die Kinder des sowjetischen Hungers, die der russischen Sprache das Wort chaljawa eingepflanzt haben, was bedeutet: Man kann sich ungestraft und ungehindert auf fremde Kosten den Bauch vollschlagen.