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Die chaljawa bei Putin 2012 war überaus erlesen, oder wie sich der Pressesprecher der Kreml-Küche ausdrückte: Es wurde die Crème de la Crème der russischen Küche gereicht, jedoch auf europäische Art serviert. Das ist so zu verstehen, dass die Kellner keinen Sekt in den Borschtsch schütteten und den Gästen keine Julienne auf die Knie kippten. Die kalten Vorspeisen: Kammmuschel mit Gemüseblinys und einer Edelpilzsoße, geräucherter Heilbutt mit jungen Salatblättern, Rollbraten aus gebratener Ente mit Rosmarin an Kirschsauce, Meeresfrüchtesalat mit Avocadopüree. Warme Vorspeisen: gebratene Kamtschatkakrabbe mit Miniratatouille und einem Cappuccino aus Kokosmilch. Hauptspeise: Störsteak, gefüllt mit Gemüse und Sauce de Champagne.

Abgesehen von Fruchtsäften und anderen kühlen Getränken standen der Wodka Kremlin, der zehn Jahre gelagerte und ebenfalls in Russland hergestellte Cognac Kremlin sowie der russische Weißwein Pinot Aligote Selection Château le Grand Vostock 2009 und der russische Auslesechampagner Abrau Djurso 2008 zur Wahl. Alle genannten Getränke werden in Russland hergestellt und haben mit Cognac und Champagner im eigentlichen Sinne (also als Getränken, die in den französischen Provinzen Champagne und Cognac hergestellt werden) nichts zu tun. Ob man sie konsumieren kann, ohne den Verlust der Verdauung und später auch des Sehvermögens zu riskieren, weiß ich nicht, ich habe es nicht ausprobiert. Wenn Putin sein Amt antritt, ist wahrscheinlich alles möglich.

Ich kann nur sagen, dass der Abfüller des Abrau Djurso, Boris Titow, schon bald nach der Zeremonie mit dem Posten des Beauftragten für die Rechte der Unternehmer in Russland belohnt wurde. Das Amt ist fiktiv, es handelt sich um einen Ruheposten, da die Rechte der Unternehmer im gegenwärtigen Russland nur von korrumpierten Vertretern der staatlichen Organe gewahrt werden können und nicht von einem Sekthersteller. Aber Herr Titow hat sich sicher trotzdem gefreut – er konnte seinen Trank an den Mann bringen und hat sogar noch ein Pöstchen erhalten.

Übrigens wurde die chaljawa großzügig vom russischen Steuerzahler finanziert. Das Budget für das Bankett betrug 26 Millionen Rubel (fast 800 000 Dollar), das sind 400 Dollar für jeden Gast. Sie werden mir zustimmen, dass man selbst in Paris nach einem Restaurant mit drei Michelin-Sternen suchen muss, das solche Rechnung aufstellt. Organisiert wurde das Festmahl zu Wahnsinnspreisen von dem bekannten Moskauer Gastronom Arkadi Nowikow, dem Besitzer der allerteuersten Lokale der russischen Hauptstadt. Wenn Sie für Essen ein Vermögen ausgeben und dabei trotzdem hungrig bleiben wollen, sind Sie dort an der richtigen Adresse.

Das Wichtigste am 7. Mai 2012 war jedoch, dass Putin zur Amtseinführung aus seiner Vorstadtresidenz Nowo-Ogarjowo elf Kilometer durch eine absolut leere Stadt in den Kreml fuhr. Kein Mensch war in der Hauptstadt zu sehen. Das lag nicht nur daran, dass die Fahrtroute bis zum Spasski-Tor des Kremls lange vor Putins Fahrt für alle Formen menschlicher oder motorisierter Bewegung gesperrt worden wäre. Der Grund war auch, dass die gesamte Stadt Putin mit dieser vielsagenden Leere etwas zeigen wollte. Niemand wollte die Eskorte begrüßen, niemand schrie »Hurra«, niemand winkte mit Fähnchen. Niemand zeigte ihm auch nur den ausgestreckten Mittelfinger. Der Präsident befand sich in absoluter Einsamkeit – als fahre er durch die Hauptstadt eines okkupierten Landes.

Davon war in den staatlichen russischen Fernsehsendern natürlich nicht die Rede. Aber man konnte es an den Fernsehbildern leicht erkennen. Unsere Blogger luden in den sozialen Netzwerken Hunderte von Fotografien hoch, die Putins Amtseinführung ähnlichen Prozeduren in den USA oder in Frankreich gegenüberstellten, wo es große Menschenansammlungen und aufrichtigen Jubel gab. Am 7. Mai 2012 herrschte in Moskau Grabesstille.

Und all das geschah in der Stadt, wo nach offiziellen Angaben fast 47 Prozent der Wähler für Putin gestimmt hatten! Niemand ließ sein Wochenendgrundstück, sein Wodkagläschen oder den allerneusten Superthriller stehen und liegen. Das Volk zeigte für seinen gewählten Herrscher keinerlei erkennbares Interesse. Selbst in den sozialen Netzwerken – von Facebook bis Twitter – wird man kaum ein Grußwort für den zurückgekehrten Präsidenten finden. Zu 99 Prozent sind es bissige, ironische, sarkastische, teilweise offen beleidigende Anmerkungen und Kränkungen.

Vielleicht war es Putin auch gleichgültig – wer weiß? Vielleicht waren für ihn nur die Tatsache seines Sieges und seine absolute Unanfechtbarkeit in juristischer und amtlicher Hinsicht wichtig? Zumal ihm trotzdem alle Staatsoberhäupter weltweit gratulieren und alle Fragen der Legitimität seiner neuen Amtszeit im Kreml von selbst wegfallen würden. Und das Volk? Was soll mit ihm schon sein? Das Volk war schon immer das Volk.

Das mag so sein oder auch nicht. Putin ist ein zielstrebig alternder Autokrat. Und ein Regent dieses Typs möchte nicht einfach nur die Macht, deren er nach all den Jahren ohnehin überdrüssig ist. Er will Liebe. Doch stattdessen bekam er am 7. Mai nur die absolute Gleichgültigkeit seiner Hauptstadt Moskau zu spüren.

Es muss doppelt kränkend für ihn gewesen sein. Im Jahr 2000, als der Abkömmling der Sümpfe an der Ochta zum ersten Mal russischer Präsident wurde, gab es viele Erwägungen und Gerüchte über eine vollständige oder teilweise Verlegung der Hauptstadt nach Sankt Petersburg. Auch ich war ein Anhänger dieses Konzepts, und zwar aus einem einfachen Grund: Petersburg ist der russische Schlüssel zu Europa, die Stadt ist das Tor, das nach Westen weist. Moskau hingegen ist durch seine Hauptstadtfunktionen nicht nur überlastet, es symbolisiert auch viel zu deutlich die mongolische Herrschaftstradition und die Eigenarten des russischen Staatswesens. Schließlich geschah es ja unter der Mongolenherrschaft, dass Moskau zum politischen Zentrum wurde.

Deswegen hätte ich es sinnvoll gefunden, einige staatliche Organe in die nördliche Hauptstadt zu verlegen, die nicht jeden Tag tagen – den Föderationsrat, den Sicherheitsrat, die hohen Gerichte. Gleichzeitig hätte ich es aus historischer, politischer, logistischer und infrastruktureller Sicht richtig gefunden, der Stadt den offiziellen Status einer Hauptstadt Nummer zwei zu verleihen, die formal der Hauptstadt Nummer eins gleichgestellt ist, und dort eine zweite Residenz des Staatsoberhaupts einzurichten.

Eine solche Entscheidung hätte dem Geist von Petersburg, der schönsten Stadt Europas, eine Renaissance beschert. »Wenn Petersburg keine Hauptstadt ist, dann ist es nicht Petersburg«, sagte Andrei Bely, der berühmte russische Dichter und Schriftsteller des sogenannten Silbernen Zeitalters (der ersten fünfzehn Jahre des 20. Jahrhunderts). Anna Achmatowa schrieb, dass der Verlust des hauptstädtischen Geistes die Stadt »St. Pete« schlicht und einfach zu einem »besiedelten Ballungsraum« gemacht hat. Lew Oserow, der heute halb vergessene Versdichter aus sowjetischen Zeiten, nannte Petersburg »eine große Stadt mit regionalem Schicksal«. Eine teilweise Verlegung der Hauptstadt in den Nordwesten hätte Petersburg geholfen, diesen Provinzfluch zu überwinden.

Putins Leute hatten sich bereits darauf vorbereitet, wobei ihre Motive selbstverständlich völlig andere waren als die des Autors dieser Zeilen. Wladimir Koschin, dem Leiter des Präsidialamts, lief das Wasser im Munde zusammen, wenn er sich auf Schmierzetteln ausrechnete, wie viele Milliarden Dollar man über das Projekt »Neue Hauptstadt« aus- und abschreiben konnte. (Damals konnte sich noch niemand vorstellen, welche Ausmaße das Projekt »Winterspiele 2014« in Sotschi haben würde, das mittlerweile fast mehr als 50 Milliarden Dollar geschluckt hat, wobei sich die tatsächliche Höhe der Ausgaben und Unterschlagungen erst nach Ende der Spiele zeigen wird.)

Aber Putin brachte es nicht fertig. Fast nicht fertig. Nach der Hälfte seiner zweiten Amtszeit (2006) genehmigte er nicht ohne Schwierigkeiten den Umzug des Verfassungsgerichts in die nördliche Hauptstadt. Und erst 2012, nachdem er zum dritten Mal Präsident geworden war, bewilligte er etwas weniger als 2 Milliarden Dollar für den Umzug zweier weiterer Gerichte nach Sankt Petersburg – des Obersten Gerichtshofs und des Höchsten Schiedsgerichts – nach Petersburg (eine lächerliche Summe im Vergleich zu den sonstigen Unterschlagungen von Staatsgeldern). Unter Putin war und blieb Moskau die Hauptstadt in vollem Sinne. Mehr noch – Putin brachte der großen und ihm fremden Stadt das Kapital seiner Petersburger Freunde, das sie durch Öl, Gas und andere wertvolle Bodenschätze unseres unendlichen Sibirien verdient hatten. Es waren Dutzende, Hunderte Milliarden von Dollar.