Grischas Schmunzeln war von entwaffnender Gelassenheit.
»Ich bin kein Mann zum Heiraten. Das hat Lene von Anfang an gewusst, und soweit mir bekannt ist, hat es sie auch nicht gestört.«
Jakob starrte in den Kaffee vor sich, an dem er nur kurz genippt hatte, anstandshalber.
Wie die Glühwürmchen einer Sommernacht, hatte seine Mutter sich ausgedrückt. So waren wir, dein Vater und ich.
Ein Märchen, das Jakob als Junge wieder und wieder hatte hören wollen. Vom Küstenmädchen, das in die große Stadt gekommen war, um an seinem Glücksfaden zu spinnen, bis er sich in pures Gold verwandelte. Und vom Eisbaron, der auf den Meeren der Welt zu Hause war und ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen hatte.
Je weiter Jakob aus seinen Jungenhosen herausgewachsen war, umso stärker hatten die Zweifel an ihm genagt, ob er diese Legende wirklich glauben konnte.
»Hätte ich gewusst, dass es dich gibt …«, ließ Grischa sich leise vernehmen. »Ich sorge für meine Kinder und ihre Mütter.«
Ein feiner Stich der Eifersucht durchzuckte Jakob, einer unter vielen zu sein. Das zufällige Nebenprodukt eines ausschweifenden Lebenswandels.
»Ist es das, was Sie unter Verantwortung verstehen?«, warf er Grischa Voronin an den Kopf. »Ein Scheck alle paar Monate?«
Grischa deutete ein Kopfschütteln an.
»Es war immer mehr als das. Aber alles, was ich geben konnte. Das musst du verstehen.«
Jakob dachte an Inkens lebenssprühende Augen. An ihre Küsse und wie sich ihre Hände unter sein Hemd geschoben hatten, dass ihm Hören und Sehen vergangen war. Über die Vorbehalte ihres Vaters gegen Jakob hatte sie genauso gelacht wie über Jakobs Wunsch, noch zu warten, bis er ihr ein gutes Leben bieten konnte. Dann war ein anderer gekommen, der Sohn eines Salzbarons, und hatte Inken vom Fleck weg geheiratet.
Geld war nicht alles, hieß es. Hatte man jedoch keines, war man nichts, das hatte Jakob schmerzhaft erfahren.
»Nein, das muss ich nicht verstehen«, schoss er jetzt zurück. »Und ich will es auch nicht.«
Seit Grischa als Dreizehnjähriger dem Gehöft in Russland den Rücken gekehrt hatte, hatte er kaum je zurückgeblickt. In letzter Zeit jedoch drängten sich ihm zunehmend Erinnerungen auf, vielleicht ein Zeichen beginnenden Alters. Noch fiel es ihm leicht, diese Geister der Vergangenheit zu bannen.
Jetzt jedoch saß eine dieser Erinnerungen leibhaftig vor ihm und klagte ihn für seine Versäumnisse und Fehler an. In Gestalt seines unbekannten Sohnes, das dunkle Haar ein wenig zu lang, der Oberlippenbart fast noch flaumig und nur halbherzig getrimmt. Hohlwangig sah er aus, die kräftigen Konturen seines Gesichts, die knochigen Schultern unter der Jacke noch lange nicht ausgefüllt. Ein zorniger junger Mann, wie er selbst es als Junge einst gewesen war, mutterlos und hungrig nach dem, was das Leben ihm bislang vorenthalten hatte.
»Lene«, begann Grischa nach einer längeren Pause, »Lene hatte ihren eigenen Kopf. Nein hieß Nein und blieb in Stein gemeißelt, und jedes Ja kam aus vollem Herzen.«
Eine trostlose Schwere machte sich in ihm breit. Vielleicht hatte man dann ein gewisses Alter erreicht, wenn die, die man einmal geliebt hatte, nacheinander von dieser Welt gingen. Wie Lene. Wie Thilo.
»Ich habe noch ihre Stimme im Ohr«, fuhr er nachdenklich fort. »Wie sie gesungen hat, wenn sie sich morgens die Haare flocht. Die derbsten Gassenhauer, aus vollem Hals. Und wenn ihr etwas kaputtging oder das Essen anbrannte, hat sie geflucht, dass selbst der raubeinigste Seemann rote Ohren bekommen hätte.«
»So erinnere ich mich auch an sie.«
Die Blicke der beiden Männer blieben aneinander hängen, und so etwas wie ein Lächeln entspann sich zwischen ihnen. Unsicher und sich vorsichtig aufeinander zutastend, auf beiden Seiten.
»Bist du deshalb nach Hamburg gekommen?«, wollte Grischa wissen.
Die Art, wie Jakob den Kopf bewegte, war halb ein Ja und halb ein Nein.
»Ich will auswandern«, erklärte er. »Nach Amerika.«
Grischa nickte. Die Zahl derer, die es aus ganz Deutschland in die Häfen von Hamburg und Bremerhaven zog, um in eine neue, eine bessere Welt aufzubrechen, war in den vergangenen Jahren zu einem gewaltigen Strom angeschwollen. Mit jedem Aufstand, jedem Krieg, jeder Missernte wurden es mehr. Das brachte der Fortschritt mit sich, der menschliche Arbeitskraft zunehmend ersetzte, und der Ansturm von Arbeitern aus Dänemark, Polen und Russland, die ihrem eigenen Elend entfliehen wollten und bereit waren, für geringeren Lohn härter zu schuften.
»Da ich aber noch nicht volljährig bin«, fügte Jakob hinzu, »brauche ich dafür Ihr schriftliches Einverständnis.«
Grischa warf ihm einen aufmerksamen Blick zu. »Demnach hat Lene nie geheiratet?«
»Doch. Aber mein Stiefvater ist dagegen. Außerdem ist es Ihr Name, der in meiner Geburtsurkunde steht.«
»Natürlich. Ich unterschreibe dir deine Papiere.«
Die Erleichterung lief wie ein Zittern durch Jakob. Nun griff er doch zu seinem Kaffee, der schon fast kalt war. Ein guter Kaffee war es, er hätte schon früher davon trinken sollen.
»Außerdem dachte ich«, sprach er weiter, mit jedem Schluck erst die Worte auf der Zunge kostend, »wenn jemand weiß, wie man sich ein neues Leben in einem fernen Land aufbaut, dann Sie.«
Grischa nickte wieder.
Eine befangene Stille breitete sich aus. Wie ein lauernder Abschied, bevor ein Willkommen überhaupt ausgesprochen war.
»Willst du so lange bei mir unterkommen?«, schlug Grischa dann vor. »Bis du fährst?«
Unschlüssig rieb Jakob mit dem Kinn über seine Schulter. Über die ersehnte Unterschrift hinaus hatte er sich wenig Gedanken gemacht, was ihn hier erwarten mochte. Sicher nicht, dass der Mann, der ihn vor zwanzig Jahren unwissentlich gezeugt hatte, ihm freundlich die Hand reichte.
Mit einem fragenden Ausdruck hob Grischa die Kanne, und nach kurzem Zögern ließ Jakob sich bereitwillig nachschenken.
7
Die Stimmung im Kontor war die gleiche wie ein paar Tage zuvor, von emsiger Betriebsamkeit. Und doch war es grundlegend anders für Jakob, mit einem respektvollen Handschlag als Sohn des Firmengründers begrüßt zu werden, bevor die Angestellten flugs an ihre Schreibtische zurückkehrten, um Frachtpapiere, Bestellungen und Rechnungen zu bearbeiten. Hier war Zeit spürbar jeden Pfenning wert.
Im Korridor zögerte Jakob. Zu einer Sitzung des Vorstands sollte er Grischa begleiten, um Geschäftsluft zu schnuppern und schon einen Teil der Familie kennenzulernen; jetzt war ihm nicht mehr wohl dabei.
»Ich glaube, ich bin noch nicht so weit.«
»In Ordnung.« Ermunternd drückte Grischa Jakobs Schulter. »Hier, warte in meinem Büro auf mich.«
Sobald sich die Tür hinter Jakob geschlossen hatte, atmete er auf.
Zwischen den Seestücken und gerahmten Karten an den Wänden verteilten sich nautische Instrumente, vom Salz und der Zeit angenagt, das eine oder andere Buddelschiff. Für Jakobs Empfinden seltsam unpersönliche Erinnerungsstücke. Wie die großzügige Wohnung in Altona ein ausgeworfener Anker, der jederzeit wieder gelichtet werden konnte.
Sein Vater. Die längste Zeit ein formloser Schatten am Rand von Jakobs Gesichtsfeld, musste er sich erst an den Mann aus Fleisch und Blut gewöhnen. Noch unsicher, ob er das überhaupt wollte.
Sein Blick fiel auf den Klingelzug an der Wand. Für einen Kaffee oder etwas anderes sollte er einfach jemanden von den Angestellten rufen, hatte Grischa ihm noch zugeworfen, bevor er davoneilte.
Tischlein deck dich.
Jakob vergrub die Hände in den Hosentaschen.
Vom Fenster aus hatte er einen guten Blick über Hamburg. Eine hoch aufwogende See aus Stein, durch die Grischa Voronin mit der Selbstsicherheit eines Wals pflügte, Jakob in den letzten Tagen wie ein großäugiger Hering in seinem Schlepptau.
Wie er Hamburg gerade erlebte, so ungefähr hatte er sich New York vorgestellt. Überschwappend und laut, ein Sammelbecken für Menschen aus allen Himmelsrichtungen. Ein fortwährender Jahrmarkt, und nirgendwo in der Stadt drehte sich das Karussell schneller als im Hafen. Als Jakob sich dort nach den Kursplänen und Formalitäten für seine Auswanderung erkundigt hatte, hatte er die Menschenmengen gesehen, die sich mit Sack und Pack auf den Kais zusammendrängten. Hauptsächlich junge Männer wie er selbst, aber auch ganze Familien, die noch kleinen Kinder auf dem Arm oder an der Hand, manchmal mit einer Großmutter, einem Großvater dabei. Die Gesichter nach einer frischen Brise der Hoffnung gereckt, warteten sie darauf, eines der Schiffe zu besteigen, von denen kein einziges groß genug aussah, um sie alle fassen zu können.