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Auch Grischa war damals aus Russland geflohen, vor der Armut und der Zwangsjacke der Leibeigenschaft. Jakob selbst hatte zwar nie Hunger gelitten, aber auch nie mehr erreicht, als von der Hand in den Mund zu leben. Im puppenstubengleichen Lüneburg, in dem er sich schon als Halbwüchsiger dauernd den Kopf, den Ellbogen angestoßen hatte. Nur wenn er aus der Stadt hinausgewandert war, hatte er sich frei gefühlt. Jenseits der von akkuraten Hecken und Baumreihen eingegrenzten Felder und Weiden, draußen in den Auen, wo die Elbe die Wiesen tränkte und im Himmel aufging, zwischen Weißstörchen und Graureihern, dem Kiebitz und der Heidelerche. Ein Menschenjunges, das sich nach einem eigenen Paar Flügeln verzehrte.

Jakob musterte Grischas Schreibtisch, das Holz warm schimmernd wie lange durchgezogener Tee. Eine Versuchung war es, sich daran zu setzen, einfach, um es einmal auszuprobieren. Doch die wahre Verlockung ging von dem wuchtigen Sofa aus, das Leder unter Jakobs Hand dunkel glänzend wie Zuckerrübensirup und genauso geschmeidig. Genau richtig fühlte es sich an, als er sich darauf niederließ, nicht zu hart und nicht zu weich. Luxuriös. Weltmännisch.

In Lüneburg war für Jakob Reichtum etwas Ungreifbares gewesen, hinter den Fenstern der Salzbarone und Tuchfürsten nur zu erahnen. Seit er in Hamburg war, konnte er den Reichtum fühlen und schmecken, und er roch wie dieses Sofa hier, nach weichem Leder und Zigarrenrauch und frisch geröstetem Kaffee.

Verwegen und fast schon unverschämt kam er sich vor, als er sich der Länge nach ausstreckte, um ganz in diesem geborgten Gefühl zu versinken.

Mit heißen Wangen warf Cathrin einen letzten Blick auf die Papiere vor sich, zu aufgeregt, um sich zu setzen. Es war das erste Mal, dass sie an den runden Tisch gerufen hatte, der bei Petersen & Voronin wörtlich zu nehmen war. Kein Geschäftsabschluss, keine Entscheidung in all den Jahren, die nicht an diesem Möbel aus schwerem und hartem Walnussholz stattgefunden hätten.

»Ich habe euch hierhergebeten«, richtete sie ohne Umschweife das Wort an Ludger, Grischa und Christian, »weil mir einige anstehende Transaktionen der Firma aufgefallen sind. Danke, dass Sie sich ebenfalls die Zeit genommen haben, Herr Overbeck.«

Der Prokurist deutete nur ein Nicken an, vermutlich ließ sein übersteifer Kragen keine größeren Bewegungen zu. Angelegentlich rückte er den Kneifer auf der dünnen Nase zurecht und zückte dann vorsorglich seinen Bleistift.

»Vor allem der geplante Kauf von Eisenbahnanleihen in Nordamerika ist mir ins Auge gestochen«, sprach Cathrin weiter.

»Der Eisenbahn gehört die Zukunft.« Ludger gab sich nachsichtig.

Der große Brand hatte in der Stadt eine Schneise zur Moderne geschlagen. Heute verband die Eisenbahn nicht nur über die abermals neu gebaute Lombardsbrücke Hamburg mit Altona, sondern in die andere Richtung auch mit Lübeck und Berlin. Sogar einen eigenen Güterbahnhof gab es inzwischen, mit einer Anbindung zum jüngst eröffneten Sandtorhafen.

»Ich weiß«, erwiderte Cathrin ungerührt. »Aber warum sollten wir in Amerika investieren und nicht hier in Deutschland?«

»Weil der amerikanische Kontinent unvorstellbar groß ist«, erklärte Ludger, der sich eine Menge darauf einbildete, schon dort gewesen zu sein, in New York und San Francisco. »Um die Distanzen dort zu überwinden, benötigt es viele Eisenbahnlinien. Sind die erst einmal in Betrieb, wird der Transport von Gütern und Menschen ungeahnte Profite einfahren.«

Ein Stichwort für Cornelius Overbeck.

»Bereits jetzt, knapp zwei Jahre nach Ende des Bürgerkriegs«, erläuterte er, »zeichnet sich ein wirtschaftlicher Aufschwung Amerikas ab. Ist der Wiederaufbau erst einmal in vollem Gange und sind die Südstaaten wieder angeschlossen, wird Amerika eine nicht zu unterschätzende Wirtschaftsmacht sein.«

Cathrin durchblätterte eine Handvoll der Aufstellungen.

»Das sehe ich hier aber nirgends. Nur, dass wir viel Geld ausgeben und als Gegenwert ein nichtssagendes Stück Papier erhalten. Das ist noch nicht einmal eine Aktie oder etwas Ähnliches.«

Lächelnd lehnte Ludger sich zurück. Das Vermögen der Firma zu mehren fiel größtenteils in sein Aufgabengebiet.

»Derartige Geschäfte laufen immer nach diesem Prinzip ab.«

Cornelius Overbeck nickte zustimmend.

»Wie anno siebenundfünfzig?«, hakte Cathrin nach. »Als die Hamburger Kaufleute den Hals nicht voll kriegen konnten? Wechsel in Millionenhöhe waren damals im Umlauf. Ein kleiner Windstoß genügte, um das Kartenhaus weltweit in sich zusammenfallen zu lassen, und am Ende waren etliche ursprünglich solide Unternehmen bankrott.«

»Da hat jemand seine Hausaufgaben gründlich gemacht«, sagte Ludger schmunzelnd.

Stumm vor Staunen beobachtete Christian die junge Frau, die selbstbewusst vor ihnen stand und herausfordernd infrage stellte, was für die erfahrenen Geschäftsmänner beschlossene Sache war.

Seine Tochter.

Mit hochgekrempelten Blusenärmeln hatte Cathrin sich in den Geschäftspapieren und Bilanzen vergraben, Cornelius Overbeck mit Fragen bestürmt und die Buchhalter ins Kreuzverhör genommen. Nicht ein einziges Mal war sie deswegen zu ihm gekommen.

Ausgetrickst fühlte er sich. Katya hatte genau gewusst, was sie tat, als sie Cathrin die Schlüssel und ihren Segen gab und sich dann aus dem Staub machte. Der Gedanke, Katya versuchte womöglich, mittels Cathrin die Oberhand zu gewinnen oder gar späte Rache zu nehmen, ließ den Kaffee in seinem Mund sauer schmecken.

»Wenn wir solche Wagnisse gescheut hätten«, gab er jetzt dürr von sich, »wären wir nie über den Gemischtwarenladen hinausgekommen. Sofern wir ihn überhaupt hätten halten können.«

»Jedes Geschäft birgt ein Risiko«, ließ sich Grischa neben der Tür vernehmen, seine Tasse auf dem niedrigen Schrank abgestellt. Er zog es grundsätzlich vor, im Stehen zuzuhören und zu diskutieren. »Als wir damals mit dem Eis anfingen, haben uns nicht wenige für verrückt erklärt. Und das Einzige, was in den ersten Jahren wuchs, war unser Schuldenberg.«

»Euer Risiko lag jedoch immer außerhalb des eigentlichen Geschäfts«, hielt Cathrin dagegen. »Wie damals, als ihr die Maiden of the Seas verloren habt. Nie im Handel selbst. Gekauft und verkauft habt ihr nur das, was wirklich handfest ist. Eis. Seide und Baumwolle und Leinen, Kaffee und Gewürze. Später dann Grundstücke und Gebäude.«

»Die Zeiten haben sich geändert«, bekundete Ludger.

»Darauf will ich hinaus«, fuhr Cathrin fort. »Unsere Zeit ist schnelllebiger und unsicherer geworden, die Welt kleiner. Keiner weiß, wann die nächsten Unruhen ausbrechen oder der nächste Krieg und wie sich das auf den Handel auswirkt. Wann es wieder zu einem Kurssturz an der Börse kommt, in Hamburg, London oder New York. Ob wir rechtzeitig davon erfahren und reagieren können, bevor die Pleitewelle auch unser Geschäft erfasst. Daher können wir es uns nicht leisten, unser Geld in den Eisenbahnbau in der amerikanischen Pampa zu stecken oder in diese Bauvorhaben in Wien, die noch nicht einmal durchgeplant sind. Das sind doch alles Luftschlösser!«

Klatschend landete der Papierstoß auf dem Tisch.

Seine kräftigen Zähne entblößt, lachte Ludger laut.

»Da heißt es immer, die jungen Leute wollen die Welt verändern. Und jetzt will diese junge Dame hier aus einem florierenden internationalen Unternehmen wieder eine Klitsche machen. Aus Angst!«