»Das war respektlos, Ludger«, stutzte Grischa ihn zurecht. »Sowohl Cathrin gegenüber als auch uns, die wir diese sogenannte Klitsche gegründet und groß gemacht haben.«
Ludger verkroch sich in beleidigtem Schweigen.
»Die Entscheidungen der Großen und Mächtigen haben wir nicht in der Hand«, fuhr Grischa zwischen zwei Schlucken Kaffee fort. »Aber bislang haben sich alle politischen Umwälzungen für uns bezahlt gemacht. Mit dem ersten Opiumkrieg haben wir einen Fuß in die Tür zu China bekommen, mit dem zweiten diese dann endgültig aufgestoßen. Der Aufstand in Indien hat nicht nur Madras und sein Hinterland verschont, sondern unseren Marktanteil auf dem Subkontinent sogar noch gestärkt. Und mit Hongkong und Singapur haben wir gleich zwei neue Standbeine.«
»Du kannst nicht immer nur darauf setzen, dass die Zeit für uns arbeitet, Onkel Grischa. Auf reines Glück.«
»Kann ich nicht?«
Ein Funke der Erheiterung sprang zwischen Cathrin und Grischa hin und her. Eine solche Leichtigkeit hätte Christian sich auch im Umgang mit seiner Tochter gewünscht, aber nie erreicht.
»Wenn du etwas Handfestes willst«, mischte Ludger sich wieder ein, »dann investieren wir doch am besten in Waffenfabriken. Das ist ein todsicheres und krisenfestes Geschäft. Im wahrsten Sinne des Wortes.«
Beifallheischend blickte er in die Runde.
Die Narbe, die der Krimkrieg im Gedächtnis der Welt hinterlassen hatte, begann gerade zu verblassen, zehn Jahre danach. Eine ganze Generation von Mädchen namens Alma wuchs heran, ohne zu wissen, dass sie nach einer Schlacht benannt worden waren, genauso wie ein Dutzend Brücken, Plätze und Ortschaften auf der ganzen Welt.
Im Kern war es ein verspäteter Kreuzzug um die heiligen Stätten Jerusalems gewesen, der sich schnell als Feuerwalze zwischen Ost und West durch die Landkarte fraß. Eine bis dato ungekannte Maschinerie aus Sprenggranaten, Unterwasserminen und präzisen neuen Schusswaffen drehte die Soldaten durch den Fleischwolf; die Männer Frankreichs, Großbritanniens und des Osmanischen Reiches auf der einen Seite der Schützengräben, die Russlands auf der anderen. Der erste Krieg, der in Bildern und gedruckten Worten die Menschen zu Hause in ihren Lehnsesseln erreichte, und der erste, der durch Eisenbahnen, Dampfschiffe und den Telegraphen gewonnen wurde.
Die wahren Sieger des Krieges aber hießen Hunger und Durst, Seuchen und Wundbrand. Ein finsteres Kapitel in diesem langen Jahrhundert, in das auch Florence Nightingale und ihre Krankenschwestern nur ein winziges Lichtlein hatten tragen können.
»Auf keinen Fall!«, rief Cathrin aus. »Das ist moralisch nicht vertretbar, daran machen wir uns nicht die Hände schmutzig. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir auch niemals während des Krieges die amerikanischen Südstaaten mit Eis beliefert.«
Christian zuckte mit den Schultern. »Wenn wir es nicht gewesen wären, hätte sich ein anderer eine goldene Nase damit verdient.«
»Es war nicht recht«, widersprach Cathrin. »Dadurch haben wir den Süden unterstützt und uns an der Sklaverei mitschuldig gemacht.«
»Unsinn!«, polterte Ludger. »Die Sklaverei war schon zum Untergang verurteilt, bevor der erste Schuss des Krieges abgefeuert wurde. Unser Eis hat dabei nicht die geringste Rolle gespielt.«
Cathrin blieb störrisch. »Trotzdem war es nicht recht. Und illegal noch dazu.«
»Ich für meinen Teil habe liebend gern den Blockadebrecher gespielt«, gab Grischa heiter zurück.
Ein launiges Gedankenspiel war es gewesen, wie so oft zu später Stunde im Kontor. Über ein paar Gläsern und den Nachrichten aus der Welt, von denen jede ein drohendes Unwetter oder eine Flaute ankündigen konnte, die einen Kurswechsel nötig machte, manchmal aber auch einen frischen Wind mitbrachte.
Der Bruderkrieg im fernen Amerika hatte den Güterverkehr entlang der Mason-Dixie-Linie unterbrochen. Auch für das Eis aus den Flüssen und Seen von Massachusetts und Maine, das den Mint Julep auf der Veranda des schwülen Südens kalt hielt, das Fleisch für die geselligen Barbecues der Plantagen frisch. Nachdem Frederic Tudor und seine amerikanischen Konkurrenten ihr Monopol über Jahrzehnte hinweg verteidigt hatten, war es schlagartig im Pulverdampf zwischen Manassas und Gettysburg zerstoben. Ein Vakuum, das nur darauf wartete, dass jemand anders es füllte. Ein Abenteuer, für das Grischa und Christian sofort Feuer und Flamme gewesen waren. Gegen den Widerstand Katyas, und von Thilo nur widerwillig geduldet, aber der fette Gewinn aus diesen Schmuggelfahrten hatte ihnen recht gegeben.
»Gerade dir hätte es doch ein Anliegen sein müssen, dass der ausbeuterische Süden so schnell wie möglich in die Knie geht«, hielt Cathrin Grischa vor.
Grischa nickte. In Russland landlos und unfrei geboren, hatte er die Nachricht, dass das schwächelnde Zarenreich die Leibeigenschaft aufgehoben hatte, auf seine Weise gefeiert. Jedem Angestellten und Arbeiter hatte er einen Bonus ausgezahlt und den restlichen Tag freigegeben.
»Aber gerade ich weiß, dass viele Wege zum Ziel führen. Und nicht immer ist der kürzeste auch der beste.«
Ludger knurrte etwas von der heiligen Johanna, Revoluzzern und kommunistischen Ideen in sich hinein.
»Ludger, es reicht«, murrte Christian. Streitgespräche wie diese erschöpften ihn seit einiger Zeit.
Ludger schwieg, sichtlich verstimmt.
Einige Herzschläge lang war nur das Gurren der Tauben im Gebälk zu hören. Über dem Fleet schrien die Möwen nach mehr, mehr, mehr; der Wahlspruch der Hamburger Händler, so lange irgendjemand zurückdenken konnte.
»Macht ihr euch nie Gedanken«, begann Cathrin dann erneut, »dass unser Eis eines Tages nicht mehr gefragt sein wird? Weil andere auf den Markt drängen, die billiger und schneller liefern? Weil der Fortschritt uns eine andere Möglichkeit der Kühlung beschert?«
Christian schnaubte, fast schon erbost. »Als ob keiner mehr Diamanten kauft, seit es Strasssteine gibt.«
Nachdenklich rieb Grischa sich über die Unterlippe.
Für Christians Töchter war er der weit gereiste Onkel gewesen, der Jette erst ausgefallene Spielsachen mitbrachte, später exotischen Schnickschnack, Marie bunte Federn, die sie mit der gleichen Andächtigkeit durch ihre Elfenfinger gleiten ließ, mit der sie Tiefseemuscheln streichelte und dann an ihr Ohr hielt.
Cathrin hingegen hatte nichts mehr geliebt, als Zeit mit ihm zu verbringen. Räuber und Gendarm hatten sie im Garten gespielt, zusammen den Hafen erkundet und in der Elbe geplanscht und auf ihren Streifzügen durch die Wälder das Wesen der Dinge ergründet.
Als Herrin eines Landguts hätte er sie sich vorstellen können, als Entdeckungsreisende oder Naturforscherin. Wann immer Katya darauf zu sprechen gekommen war, dass sie und Thilo sich Cathrin im Unternehmen wünschten, hatte Grischa nur mit den Schultern gezuckt und darauf verwiesen, dass Cathrin sich ihren Posten schon erobern würde, wenn die Zeit für sie gekommen war.
Offenbar war diese Zeit jetzt angebrochen.
»Was schwebt dir stattdessen vor?«, wollte er wissen.
Der sichere Grund, auf dem Cathrin eben noch gestanden hatte, begann unter ihren Füßen zu bröckeln.
»Das weiß ich auch noch nicht.« Tapfer reckte sie das Kinn in die Höhe. »Über kurz oder lang werden wir aber wohl über einen neuen Kurs für die Firma nachdenken müssen.«
Ein Kassandraruf, den keiner hören wollte. Schon gar nicht mit einem solch neunmalklugen Nachhall, das las sie aus den Gesichtern der vier Männer.
Cathrins Blick fiel auf die verwaisten Plätze von Katya und Thilo. Katya würde spätestens in ein paar Wochen wieder hier sein. Thilo nicht. Niemals mehr.
Sie wünschte sich, sie hätte mit einem von beiden ihre Gedanken vorab durchsprechen, sich im Nachhinein Rat oder Hilfe holen können. Jetzt dämmerte ihr, wie allein man sich zuweilen auf einem solchen Posten fühlen konnte. Wie verloren.
Jäh fuhr sie herum und floh zur Tür hinaus.
Die Tür fiel krachend zu, und Jakob schreckte aus seinen Tagträumen hoch. Eine junge Frau war hereingeplatzt, sichtlich aus der Fassung geraten. Ungehalten riss sie an den Kragenknöpfen ihrer Bluse, um sich Luft zu verschaffen und stapfte dann auf und ab, während sie sich über die Augen rieb und mit den Fäusten in die Luft boxte.