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Es vermittelte sicher keinen guten Eindruck, hier auf dem Sofa herumzuflegeln; rasch setzte Jakob sich auf.

Jetzt war sie diejenige, die zusammenzuckte.

»Entschuldigen Sie«, rief sie aus. »Ich wusste nicht, dass mein Onkel noch einen Termin …«

Ihr Mund blieb offen stehen. Gründlich musterte sie Jakob bis ins kleinste, seinem Vater so ähnliche Detail, und ein verblüfftes Lächeln zuckte über ihr Gesicht.

»Du musst Jakob sein. Grischas bis dato unbekannter Sohn.«

»Er hat von mir erzählt?«

Sie wiegte den Kopf hin und her. »Er hat zumindest erwähnt, dass du aufgetaucht bist.«

Siedend heiß fiel es Jakob ein, dass es sich nicht gehörte, in Gegenwart einer Dame zu sitzen, und er sprang auf. Keinen Augenblick zu spät; in einer energischen Geste streckte die junge Frau ihm die Rechte entgegen. Wie unter Männern, Jakob hatte keine Ahnung, ob das in Hamburg üblich war.

»Cathrin Petersen. Sozusagen deine Cousine.«

Einen festen Händedruck hatte sie, dazu einen durchdringenden Blick, dem nicht leicht standzuhalten war, auf Augenhöhe mit Jakob. Etwas an ihrem Hals lenkte seine Aufmerksamkeit ab; halb unter dem geöffneten Kragen verborgen, konnte er es nicht genau erkennen.

Eine rot leuchtende Feder. Ein Blutfleck. Das Herbstblatt des wilden Weins oder Klatschmohn.

Widerwillig drehte Cathrin den Kopf zur Seite. »Ist nicht ansteckend.«

»Das habe ich auch nicht angenommen«, versicherte er hastig.

»Meine Tante sagt, das ist der Fingerabdruck des Feuers. Ich bin während des großen Brands geboren.«

Das wiederum konnte Jakob sich gut vorstellen. Wie aus Stahl und Glas geschmiedet war sie, durchglüht von einer Lebendigkeit, die ihre helle Haut zum Leuchten brachte. Ein Geschöpf der Großstadt und wie für eine neue Zeit gemacht.

Einschüchternd geradezu, zumindest für Jakob, während sie beide schwiegen, verlegen und ein bisschen ratlos, aber spürbar neugierig auf den anderen.

Jakob nahm seinen ganzen Mut zusammen. »Was hat dich vorhin denn so aufgebracht?«

Cathrin biss sich auf die Unterlippe. Ein selbst auferlegtes Siegel, das nicht lange vorhielt. Ihre Augen schlugen Funken wie Feuersteine, während sie ihrem Unmut freien Lauf ließ. Die Brauen zusammengezogen und den Blick auf seine abgestoßenen Schuhspitzen geheftet, hörte Jakob ihr aufmerksam zu. Er verstand das Problem, aber nicht die Schwierigkeit dabei. Schließlich hob er den Kopf.

»Warum hast du nicht einfach Nein gesagt?«

Überrascht sah Cathrin ihn an.

Jakob zuckte leicht mit den Schultern. »Wozu erst begründen, weshalb du gegen diese unsicheren Geschäfte bist, wenn sie dir deine Argumente doch gleich wieder auseinandernehmen? Sag Nein, und damit fertig.«

Cathrins gerade noch zornesdunkle Augen hellten sich auf, bis sie wie Opale schimmerten. Ein kleines Glucksen entfuhr ihr, dann brach sie in Lachen aus, wie über sich selbst, weil sie nicht von allein auf das Einfachste, das Naheliegendste gekommen war.

»Danke!«

Mit gerafften Röcken rannte sie davon, ohne die Tür hinter sich zu schließen. Am anderen Ende des Korridors konnte Jakob ihre Stimme hören, fest und klar. Einer seiner Mundwinkel hob sich.

Seine Cousine. Sozusagen.

Am runden Tisch waren die Herren gerade im Aufbruch begriffen gewesen, jetzt harrten sie wie eingefroren aus. Nachdem Cathrin schwungvoll ihr Veto gegen die geplanten Investitionen in österreichische Bauprojekte und amerikanische Eisenbahnlinien eingelegt hatte, war die Stille zum Schneiden dick.

Ludger fing sich als Erster wieder. »Wer, zum Teufel, gibt dir das Recht …«

»Katyas Vollmacht«, erwiderte Cathrin schlicht.

»Katya sieht das womöglich anders«, ätzte Ludger.

Cathrin nickte. »Das mag sein. Es steht dir frei, diese Geldanlagen noch einmal auf den Tisch zu bringen, sobald sie wieder hier ist. Bis dahin treffe ich jedoch an ihrer Stelle solche Entscheidungen, so gut ich kann.«

Unter dem Backenbart arbeiteten Ludgers Kiefermuskeln, aber er sagte nichts weiter dazu.

»Du bist dir hoffentlich darüber im Klaren, dass uns dadurch lukrative Geschäfte entgehen«, bemerkte hingegen Christian, seine Augen wie geschliffenes blaues Glas.

»Ich halte sie nicht für lukrativ«, beharrte Cathrin. »Nicht in absehbarer Zeit. Nicht in dem Ausmaß, dass es das Risiko wert wäre.«

Was immer ihrem Vater dabei durch den Kopf gehen mochte, behielt er hinter gesenkten Lidern für sich, einen harten Zug im Gesicht.

Grischa war zum Fenster gewandert. Blicklos sah er auf die Silhouette Hamburgs hinaus.

Einen Moment lang fühlte er sich in die Vergangenheit zurückversetzt. Im Laderaum eines Walfängers, Haut an Haut mit Wolf, ihre Atemluft schwer von abgefackelter Lust und noch mehr vom Gestank der Tranfässer.

Wir werden sie jagen, bis keiner mehr übrig ist, hatte Wolf düster orakelt. Die Tage des Walfangs sind gezählt. Morgen oder in ein paar Jahren oder in zehn.

Wolf hatte recht behalten, so viele Jahre später, als Grischa das längst nicht mehr zu kümmern brauchte.

Ihr Eis aus den norwegischen Seen reiste heute nicht nur nach Indien und Indonesien, nach Singapur und Hongkong und China, sondern bis nach Australien. Das »Arctic Crystal« aus den Gletschern Grönlands, das im Buckingham Palace den Champagner kühlte, hatte ihnen sogar das royale Wappen eines Hoflieferanten von Queen Victorias Gnaden eingebracht.

Der große überwältigende Rest Europas hatte sich jedoch als uneinnehmbare Festung erwiesen, mit den Alpen als ihrem Bergfried. Das kalte Herz des Kontinents versorgte Paris und Rom ebenso mit Eis wie die Bierbrauereien und Eiskeller Deutschlands. Und letztlich hatten sich auch die Geschäfte in Amerika als kurzes Gastspiel erwiesen; gleich nach der Baumwolle nahm das Eis Nordenglands heute den größten Stauraum auf amerikanischen Frachtern ein.

Frederic Tudor hatte das Ende des Bürgerkriegs nicht mehr miterlebt. Ihr Schattenkonkurrent, der vermutlich nicht einmal gewusst hatte, dass es die Eisbarone von Hamburg gab. Der Eiskönig von Boston war er geblieben, ungeachtet aller Rivalen, die ihr eigenes Eis auf den Markt brachten. Nachahmer, wie sie einst gewesen waren, als Katya im Hafen von Tromsø zum ersten Mal von einem verrückten Amerikaner gehört hatte, der Eis in die Tropen verschiffte.

Jetzt waren sie diejenigen, die kopiert wurden.

Der Süden Norwegens war nicht nur reich an Wäldern, sondern auch an Flüssen und Seen, die sich jeden Winter in eine unerschöpfliche Schatzkammer für Eis verwandelten. Vergleichsweise einfach zu gewinnen und in das Sägemehl gepackt, das im althergebrachten Holzgewerbe abfiel, konnte das Eis nahezu aus dem Stand über die Nordsee verschifft werden, denn auch der Schiffbau und die Seefahrt hatten dort lange Tradition. Massen preiswerten norwegischen Eises verteilten sich über die neu gebauten Eisenbahnlinien durch ganz Großbritannien, hielten den dort so beliebten Fisch frisch und kühlten die Eiscreme italienischer Einwanderer, fashionable in den Londoner Parks und in den Seebädern entlang der englischen Küste. Nicht einmal vor Etikettenschwindel wurde haltgemacht. Ein See bei Oslo war kurzerhand in Wenham Lake umbenannt worden, um den Käufern weiszumachen, dieses Eis sei Tudor-Eis aus dem gleichnamigen See in Massachusetts.

Auf Eis gab es ebenso wenig ein Patent wie auf Reis oder Bohnen oder Weizen, kein Warenzeichen oder Gütesiegel, das hatten sie immer gewusst. Am Ende war Eis eben nur Eis, gleichgültig, wie klar, wie besonders es sein mochte. Irgendwann blieb nichts als eine Wasserpfütze davon übrig.

Noch gab es keine Alternative. Immer wieder wurde in der Werkstatt eines Ingenieurs, eines Wissenschaftlers an Dampfkompressoren getüftelt, die mittels Alkohol oder Ammoniak kühlen sollten. Ewas wirklich Brauchbares war noch nicht dabei herausgekommen, genauso wenig wie bei Fernsprechapparaten oder Schreibmaschinen. Doch wer wusste schon, wie lange das so bleiben würde; heute verband sogar ein Telegraphenkabel am Meeresgrund Europa und Amerika, wuchs die Photographie gerade aus ihren Kinderschuhen heraus, und die Milch hielt länger, weil sie neuerdings pasteurisiert war.