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Womöglich waren die Tage des Eishandels wirklich gezählt. Nicht heute und nicht morgen, aber übermorgen. Und sei es nur, dass das Wetter eines Tages Kapriolen schlug und zu warme Winter bescherte wie den Amerikanern zu Beginn des Jahrzehnts.

Grischa ertappte sich dabei, wie er mit den Fingerspitzen gegen den Fensterrahmen trommelte. Jetzt spürte er sie wieder, die Rastlosigkeit, die ihn früher vorwärtsgetrieben hatte. Seit Cathrin ihm heute diesen Floh ins Ohr gesetzt hatte.

Er wandte sich um.

Aufrecht stand sie da, erwartungsvoll und einen siegesgewissen Glanz in den Augen.

Genauso musste er früher gewirkt haben, von einem Selbstbewusstsein, das an Arroganz grenzte. Mit einem vorausschauenden Weitblick, den die Älteren frech fanden und die Gleichaltrigen verquer. Besserwisserisch geradezu. Ihm hatte man das nachgesehen, er hatte damit alles erreicht, was er wollte. Aber er war auch ein Mann, kein Fräulein aus gutem Hause.

Grischa vermisste die raue Romantik jener Jahre. Den Nervenkitzel, sich aus dem Nichts mit bloßen Händen etwas aufzubauen, und die Jagd nach dem Erfolg. Etwas von diesem Pioniergeist der Eisbarone schien Cathrin geerbt zu haben, weitaus mehr die Tochter von Thilo und Katya als die ihrer leiblichen Eltern. Am selben Tag zur Welt gekommen, als das Feuer Hamburg in Schutt und Asche legte, schien schon ihre Geburt wie das Versprechen auf einen Neuanfang gewesen zu sein.

»Ich gebe Cathrin recht«, ließ er sich schließlich vernehmen. »Es ist sicher nicht verkehrt, wenn wir zumindest darüber nachdenken, uns neu zu orientieren. So lange ist keine Zeit für riskante Geschäfte.«

Äußerlich ungerührt, erwiderte Cathrin sein Nicken, doch hinter ihrem Rücken ballte sie triumphierend die Faust. In dem sicheren Gefühl, heute nicht nur eine wertvolle Lektion gelernt zu haben, sondern auch Grischa als Verbündeten an ihrer Seite zu wissen.

8

Durch die weit geöffneten Fenster strich ein Luftzug, wohltuend in der Augusthitze. Die Sonne stand schon tief über den Dächern und rief die Lastkähne zurück in den Binnenhafen. Über den letzten Handgriffen der Arbeiter zog sich ein hoffnungsvoll zirkelnder Möwenschwarm zusammen, und auf dem Kai sprangen Kinder umher, ihr Spiel schrill und überdreht vor Müdigkeit.

Im herrlich süß-säuerlichen Duft eingekochten Obsts, der über den Flur hereinzog, trank Cathrin den nächsten Schluck ihrer eiskalten Limonade und warf einen Blick über die Schulter. Mit einem Ausdruck andächtiger Konzentration saß Betje über der Buchhaltung. Nur noch selten stand sie hinter dem Ladentisch, sondern kümmerte sich ausschließlich um die Finanzen, die Herrin der Zahlen.

Betje hob den Kopf, und ein stilles Lächeln entfaltete sich zwischen ihnen. Falls sich jetzt, mit Anfang vierzig, das erste Grau bei ihr zeigte, ging es völlig im Brandrot ihrer aufgesteckten Locken unter; dass ihr kühnes Gesicht wie eh und je von Sommersprossen übersät war, machte sie dazu noch jünger.

Mit einem respektvollen Klopfen trat einer der Fahrer ein und tippte sich an den Mützenschirm. Hinter ihm ging sein Kollege vorbei, in den Händen eine Kiste gefüllter Einmachgläser, frisch mit den Etiketten beklebt, die rings um den Namenszug ein Segelschiff, Möwen und den Hamburger Michel zeigten.

»Ist alles so weit aufgeladen, Frau Reintjes. Nehmen Sie uns noch die Fuhre ab?«

»Ich mach schon, Mama.«

Levke, mit neunzehn Jahren Betjes Ebenbild, bis hin zu demselben kecken Grübchen im Kinn, stand von den Lohnlisten auf und eilte mit den Papieren für die Lieferung davon. Nur einen Augenblick später stürmte Lisje herein, eine der drei Kopstede-Töchter, lang und schlank wie ihr Vater Fiete und von demselben sanften Pfirsichblond wie ihre Mutter Jordis. Mit erhitzten Wangen drängte sie Betje und Cathrin, von dem buttrigen Feingebäck zu probieren, das sie nach einem Rezept ihrer Urgroßmutter vorhin aus dem Ofen geholt und gern im Sortiment gesehen hätte. Betje versprach, ihren Vorschlag heute Abend zu Hause auf den Tisch zu bringen, und Lisje lief strahlend davon, um eine Dose damit zu füllen.

Danach kehrte für den Moment wieder Ruhe im Kontorraum ein. Wirklich still war es dennoch nicht.

Aus dem Laden unten, durch eine schmale Stiege mit den Räumen hier oben verbunden, drang die Stimme von Finja herauf, die eine späte Kundin verabschiedete. Die Zweitälteste von Hanno und Betje hatte die Filiale mit ihrer Volljährigkeit im vergangenen Jahr übernommen. Das Stammhaus, aber schon lange nicht mehr der Hauptsitz, der an die Große Bleichen umgezogen war, wo es weitaus mehr Platz für Lagerräume und Büros gab.

Das Bimmeln der Türglocke unten war kaum verstummt, als Finja die abendlichen Aufgaben verteilte, und schäkernd und giggelnd machten sich die Ladenmädchen und der Lehrling ans Werk. Wie auch die Frauen hier oben in der Küche beim Abspülen und Feudeln schnatterten, lachten und trällerten.

Deshalb kam Cathrin gern hierher. Weil es hier bei aller Betriebsamkeit immer gemütlich zuging, heiter geradezu. Was hauptsächlich Betje zuzuschreiben war, die sich kaum je aus der Ruhe bringen ließ, für jedes Problem eine Lösung wusste und ebenso gelassen wie energisch alle Fäden fest in der Hand hielt.

Manchmal versetzte es Cathrin einen feinen Stich, dass Betje mit kaum achtzehn das hätte haben können, was sie immer schon wollte, aber sich so lange erbitten und ertrotzen musste.

»Hast du es nie bereut«, fragte sie, »dass du nicht bei Petersen & Voronin eingestiegen bist?«

Betje schüttelte den Kopf. »Das war einfach nicht das, was ich wollte. Mein Platz ist hier.«

»Wegen Hanno?«

»Auch.«

Ein vorwitziges Lächeln zuckte um Betjes Mund, bevor ihr klarblauer Blick zum Fenster hinauswanderte. Einige Herzschläge lang sann sie darüber nach.

»Ich glaube«, sagte sie dann, »es ging mir darum, etwas Eigenes zu haben. Etwas, das ich selbst gestalten kann, wie es mir gefällt.«

Etwas Eigenes hatten Betje und Hanno aus dem Gemischtwarenladen von Arno Petersen gemacht. Das dunkle Holz der Regale und Theken von nostalgischer Gediegenheit, brachten Blau und Weiß hanseatische Leichtigkeit in die Räume. Zwirn und Scheuerpulver waren aus den Fächern verschwunden, geblieben waren Eier und Kartoffeln und Rüben; gerade hier am Kehrwieder wusste man um den schmalen Geldbeutel der Laufkundschaft. Aber zum Holsteiner Käse hatte sich auch solcher aus der Schweiz und aus Frankreich gesellt, weit gereiste Ananas zu den Äpfeln und Kirschen aus dem Alten Land, und neben hamburgischem Speck lagen auch welcher aus Bayern und italienische Salami, in Sichtweite der Nordseekrabben auf ihrem Eisbett.

Feinkost Reintjes war eine feste Größe in Hamburg, hier bekam man alles, was nicht nur den Leib, sondern auch die Seele satt machte.

Cathrin erinnerte sich noch daran, wie ihr Großvater oft mit einem versonnenen Ausdruck an seinem Gehstock durch den Laden gehumpelt war. Noch auf dem Krankenbett, sein gutes Holzbein verwaist in der Ecke stehend, hatte er sich mit glänzenden Augen von den Neuerungen und Plänen erzählen lassen, den einen oder anderen Rat beigesteuert.

Dieser Raum hier war einmal seine gute Stube gewesen. Dass Betje und Hanno, mit Arnos Tod über Nacht Eigentümer des Hauses, aus der Wohnung das Herzstück ihres Feinkosthandels gemacht hatten, hätte ihn sicher gerührt.

»Großvater wäre stolz auf euch«, sagte Cathrin leise.

Lange sahen sich die zwei Frauen an, eine Fülle von Erinnerungen in ihrem Blick, schmerzliche wie schöne. Gerade auch an Thilo, der nicht nur Cathrins Ziehvater gewesen war, sondern auch der von Betje.