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Aus dem angrenzenden großen Salon waren die Stimmen der Frauen zu hören, eine Voliere lebhafter Singvögel, mit einer einzigen Nachtigall darunter, dunkler und melodischer als die anderen. Katya Petersen, Grischas Schwester, gerade erst aus Norwegen zurückgekehrt. Die Portieren aus schwerem Samt waren so weit zurückgezogen, dass Jakob sehen konnte, wie sie sich mit Marie über ein Buch beugte. Bei ihrem Anblick entspannte Jakob sich merklich; mehr als alle anderen hatte Katya ihm das Gefühl gegeben, in dieser Familie willkommen zu sein.

»Geschenkt bekommt man schließlich nichts«, sprach Ludger Niebuhr weiter. »Auch nicht bei uns in der Firma.«

»Verzeihung?« Jakob hatte ihm nur mit halbem Ohr zugehört.

Aus schmalen Augen taxierte Ludger Niebuhr ihn durch den Zigarrenqualm, strafend geradezu.

»Sie haben mich schon verstanden, junger Mann.«

Hilfesuchend blickte Jakob über die Schulter, wo Grischa ganz in seinem Spiel aufging und Christian Petersen lachend unter die Nase rieb, wie nahe er dem Sieg war.

»Rauchen Sie? Hier, greifen Sie ruhig zu.«

Nachdrücklich schob Ludger das Zigarrenkistchen näher zu Jakob. Als wollte er ihn auf die Probe stellen.

Jakobs Augen trafen sich mit denen Katyas. Noch auf die Entfernung konnte er erkennen, wie es darin auffunkelte, bevor sie Marie liebevoll über die Wange strich und sich erhob. Ihre schwarzen Röcke rauschten wie Wasser, als sie sicheren Schrittes in den Raum trat, der für die Männer im Haus reserviert war.

»Ich störe eure Unterhaltung nur ungern«, sprach sie Jakob an.

Auch in ihrer Stimme schwang noch schwach der kehlige Akzent mit, den er von Grischa kannte.

»Aber ich habe noch etwas Dringendes mit Ludger zu besprechen. Würdest du uns bitte entschuldigen?«

In aller damenhaften Würde nahm sie seinen Platz ein, und Jakob war frei.

Geräuschlos zog Jakob die Glastür zum Garten hinter sich zu. Die Hände in den Hosentaschen, legte er den Kopf in den Nacken und atmete tief durch. Ein Rest Sommerwärme hing noch in der Septembernacht, aber der rauchige Dunst des Herbstes war schon zu erahnen.

»Anstrengend, nicht wahr?«

Jakob musste nicht lange die Dunkelheit durchforsten. Im Widerschein aus den Fenstern leuchtete Cathrins schlanke Figur auf den Stufen der Terrasse wie Mondlicht. Unsicher, was genau sie meinte, zögerte Jakob; Ludger Niebuhrs unverhohlenes Misstrauen saß ihm noch im Nacken.

Jenseits der Glasscheiben stießen Christian und Grischa mit ihren Gläsern an, bevor sie eine neue Partie begannen. Unterdessen schien Katya Ludger Niebuhr ins Gebet zu nehmen. Auf seiner Zigarre kauend, harrte er sichtlich unwillig auf seinem Platz aus; die bärbeißige Miene konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine Ohren glühten wie die eines ausgescholtenen Schulbengels.

Geradezu unwirklich erschien Jakob die Geschichte hinter diesen Personen, die er gerade erst kennenlernte. Wie Katya und Grischa als Kinder das Gehöft im Norden Russlands verlassen hatten, um in der Ferne ihr Glück zu machen. Ein Weg, der sie von Sankt Petersburg über die Nordmeere bis nach Hamburg geführt hatte, in den Gemischtwarenladen der Petersens, von wo aus sie ihren irrwitzigen Plan, das Eis des Nordens in die Tropen zu verschiffen, zum Erfolg geführt hatten.

Katya, weit gereist und weltgewandt, die als junge Frau sogar einen Winter in Grönland verbracht hatte, in der feindlichen Leere von Eis und Schnee, einer vollkommenen Abgeschiedenheit vom Rest der Welt. Grischa, der wie Wind und Regen war und nur dem Meer die Treue hielt. Und Christian, schlagfertig und einfallsreich, der mit blau blitzendem Blick und gewinnendem Lächeln sicher auch Eskimos noch Eiswürfel hätte verkaufen können.

»Als wären sie einem Märchen entstiegen«, sprach Jakob seinen Gedanken laut aus.

Über sich selbst verlegen, vergrub er die Hände tiefer in den Hosentaschen. Zu seiner Überraschung stimmte Cathrin ihm zu.

»Das sind sie auch. Legenden jetzt schon, zu Lebzeiten. Frag irgendwen in Hamburg nach den Eisbaronen, und sie werden dir die tollsten Geschichten über sie erzählen. Und keiner von uns braucht sich einzubilden, ihnen je das Wasser reichen zu können.«

In einem Zug leerte sie das Glas, das sie in der Hand hielt, wie um die Bitterkeit ihrer letzten Worte hinunterzuspülen. Offenbar mit Erfolg, was sie danach sagte, klang sanfter.

»Ich habe sie nie anders gekannt. Und trotzdem hatte ich immer das Gefühl, jeder von ihnen hat einen winzig kleinen Eissplitter in seinem Herzen stecken. Seit jenem ersten Winter, den sie alle vier in Norwegen verbrachten. Segen und Fluch zugleich.«

Jakob wandte den Kopf. Ludger Niebuhr war aus dem kleinen Salon verschwunden. Katya, Grischa und Christian diskutierten lebhaft miteinander, halb ernst, halb lachend. Drei funkelnde Eiskristalle, denen das Leben einen individuellen Schliff verliehen hatte.

Vier Eisbarone waren es einmal gewesen, Grischa hatte davon erzählt. Vielleicht hatte Jakob deshalb den Abend über das Gefühl eines Ungleichgewichts gehabt. Wie eine Unwucht, um die die Gespräche, die Blicke am Tisch eierten. Ein blinder Fleck.

Er fragte sich, ob sich Cathrin deshalb hier heraus geflüchtet hatte; sie und Thilo waren ein Herz und eine Seele gewesen, auch das hatte Grischa erzählt.

»Mein Beileid zum Tod deines Onkels«, sagte er deshalb und verwünschte sich dafür, wie lahm es klang.

Den Kopf in den Nacken gelegt, blinzelte Cathrin zum Sternenhimmel hinauf.

»Danke«, würgte sie nach einer langen Pause hervor. Mit einem tiefen Atemzug richtete sie den Blick auf ihn. »Mein Beileid auch dir.«

Unvermutet scheu klang sie dabei.

Eine befangene Stille senkte sich zwischen sie, die sie offenbar mehr über den anderen wussten, als sie einander wirklich kannten. Seit ihrer ersten Begegnung hatte Jakob Cathrin nur ein paarmal zu Gesicht bekommen. Wann immer er Grischa ins Kontor begleitet hatte, war sie mit einem geschäftigen Nicken an ihm vorübergeeilt, in raschelnden Röcken und Gouvernantenbluse, die Wangen gerötet.

Cathrin griff zu der Flasche hinter sich, füllte das leere Glas und hielt es Jakob entgegen. Eine einladende Geste, die er schlecht ablehnen konnte. Er ging die Stufen hinab und setzte sich neben sie. Unter dem Rüschensaum ihres fließenden Kleides war sie barfuß, Schuhe und Strümpfe waren so liegen geblieben, wie sie sie abgestreift hatte.

»Grischa und Thilo standen sich sehr nahe, oder?«, fragte Jakob.

Verwundert sah Cathrin ihn an. »Wie kommst du darauf?«

Jakob hob die Schultern. »War mein Eindruck.«

Cathrin schüttelte den Kopf. »Nicht besonders. Sie kamen zwar gut miteinander aus, aber die besten Freunde waren sie nicht. Zwischen ihnen lag immer eine leichte Spannung in der Luft. Wahrscheinlich, weil sie so grundlegend verschieden waren.«

Davon hatte Grischa nichts erzählt. Jakob trank einen Schluck, der auf der Zunge kribbelte. Eine leichte Apfelnote schmeckte er heraus, vielleicht vom Champagner selbst, vielleicht eine Spur, die Cathrin auf dem Rand des Glases hinterlassen hatte.

»Und«, begann sie erneut, »wie gefällt es dir in unserem schönen Hamburg, Jakob Levgrün?«

Jakob drehte das Glas in den Händen. Verglichen mit Lüneburg war Hamburg eine Großstadt. Sogar die Pferde, die die Kutschen und Straßenbahnwagen zogen, waren langbeinig und schlank, nicht die massigen Kaltblüter, die er von zu Hause kannte, und auf der Alster verbanden Dampfschiffe die betriebsame Innenstadt mit den schicken neuen Vororten.

Um Jakobs Mund zuckte es.

»Warum tut ihr Hamburger eigentlich immer so, als gehörte euch der ganze weite Ozean und der Rest der Welt noch dazu? Dabei wohnt ihr doch ein tüchtiges Stück weit weg von allen Meeren.«

Cathrin brach in Lachen aus. Ein verblüffend raues und lautes Lachen hatte sie, ansteckend und süchtig machend.

»Wir Hamburger brauchen das Meer nicht vor der Tür, Jakob«, belehrte sie ihn nonchalant und nahm ihm das Glas ab, um es selbst leer zu trinken. »Wir haben die Elbe, die ist so gut wie jedes Meer. Und die Elbe bringt die Welt zu uns, so ist es immer schon gewesen.«