Schmunzelnd ließ Jakob sich Champagner nachschenken und deutete ein Naserümpfen an. »Und außerdem riecht es bei euch an allen Ecken und Enden angekokelt.«
»Das, lieber Cousin, ist der teure Kaffee aus aller Welt, der hier geröstet wird und Hamburg immer noch reicher macht.«
Das Glas wanderte von Hand zu Hand; mittlerweile fühlte sich Jakob fast so beschwipst wie Cathrin wirkte.
»Ludger glaubt, ich wäre auf Grischas Geld aus«, gestand er nach einer Weile.
Neugierig sah Cathrin ihn an. »Und, bist du es?«
Ein Grinsen flackerte über Jakobs Gesicht. »Ich hatte noch keine Zeit, ernsthaft darüber nachzudenken.«
»Ach, Ludger«, schnaubte Cathrin. »Ludger ist ein machtgieriger alter Sack.«
Jetzt war es Jakob, der loslachte, dunkel und dröhnend, und Cathrin stimmte mit ein.
Die letzten Gluckser noch in der Kehle, sahen sie sich lange an, ein Glühen auf dem Gesicht und ein Leuchten in den Augen.
»Amerika also?«, fragte Cathrin dann weich.
Jakob gab einen zustimmenden Laut von sich, und Cathrin versetzte ihm einen kumpelhaften Stoß mit dem Ellbogen.
»Worauf wartest du dann noch?«
Jakob wusste es selbst nicht. Immer wieder zog es ihn in den Hafen, einfach nur, um dort zu stehen und die Schiffe zu betrachten und seine Gedanken umherstreifen zu lassen. Mit einer Mischung aus Neid und Bewunderung beobachtete er die Menschen, die mit ihrer wenigen Habe den Sprung ins Ungewisse wagten. Jedes Mal schnürte es ihm dann den Magen zusammen, vor Reisefieber oder Aufregung oder Angst, schwer zu sagen.
Möglich, dass Grischa sein Zögern gespürt und ihm deshalb heute beim Frühstück angeboten hatte, ihm eine Zeit lang im Kontor über die Schulter zu schauen, als Grundlage für seine eigenen Geschäfte später in Amerika. Solange er wollte.
Jakob wandte den Kopf zu der erleuchteten Säulenfassade. Bei der Vorstellung, ein solches Haus einmal sein Eigen zu nennen, wurde ihm vollends schwindlig.
Sein Blick fing sich an den Glastüren zum großen Salon. Wie von einem Goldschimmer umgeben, saßen Henny Petersen und ihre Tochter Jette beisammen. Verwöhnte Prinzessin die eine, Königin wider Willen die andere, in ihrer ganzen mütterlichen Üppigkeit, das hatte er im Lauf des Abends ein paarmal über die beiden gedacht. Marie hatte noch immer das aufgeschlagene Buch auf den Knien und fuhr unablässig mit den Fingerspitzen über die gedruckten Zeilen, als läse sie mit ihrer Haut. Dieses sonderbar stille Geschöpf, das bei Tisch nur an ihren Portionen gepickt und Jakob unentwegt angestarrt hatte.
»Nimm meiner Mutter das Gedöns vorhin nicht übel.« Cathrins Flüsteratem strich über seinen Hals. »Sie kann nicht anders, als es allen immer recht machen zu wollen. Und sie ist selbst am unglücklichsten, wenn sie feststellen muss, dass sie es wieder einmal übertrieben hat.«
Um Jakobs Mund zuckte es. Als er sich der Hausherrin mit vollem Namen vorgestellt hatte, war ihre größte Sorge gewesen, nichts Koscheres auftischen zu können.
Jakob hatte sie perplex angesehen. Er wusste kaum etwas über seine Vorfahren, seine Mutter hatte nie viel darüber gesprochen. Nur dass sein Stammbaum so tief an der Ostsee verwurzelt war wie Grünkohl und Sanddorn, das hatte sie erzählt, und es hatte ihn nie danach verlangt weiterzugraben.
Sein gemurmeltes schon in Ordnung als auch die Beschwichtigungsversuche von Grischa und der übrigen Familie hatten es für Henny Petersen allerdings nur noch schlimmer gemacht.
»Tu ich nicht«, erwiderte Jakob sanft.
Fremd fühlte er sich unter diesen Leuten, und doch war er über Grischas Blut, das in seinen Adern floss, mit ihnen verbunden, ob er wollte oder nicht.
Drinnen blickte Marie auf, und obwohl Jakob wusste, dass sie ihn hier im Dunkeln nicht erkennen konnte, schien sie geradewegs zu ihm hinzusehen. Ihre Mundwinkel hoben sich, und ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, verklärt und hoffnungsfroh.
Unwillkürlich lächelte Jakob zurück.
10
Die ersten Blätter an den Bäumen hatten sich verfärbt, umso augenfälliger, je weiter der Wagen Christian aus der Stadt hinaustrug. Ein blasses Gelb im staubigen Grün, das einem weismachen konnte, es wäre noch mitten in einem heißen und trockenen Sommer. Der Nachmittag leuchtete jedoch schon bernsteinfarben über der Elbe. Septemberlicht, fließend wie Honig und herbsüß vor Wehmut.
Christian stieg aus dem Wagen. Überlaut raschelten Kies und dürres Laub unter seinen Schritten, die Stille des Friedhofs eine grüne Kathedrale; sogar die Vogelstimmen klangen weit entfernt, zart und zaudernd.
Fast ein halbes Jahr war Thilo jetzt tot. Dass Christian es verwunden hätte, wäre zu viel gesagt, er hatte sich nur daran gewöhnt. Wie er sich damals als Junge daran gewöhnt hatte, dass seine Mutter und seine kleine Schwester nicht mehr da gewesen waren.
Thilos Grabstein kam in Sicht, und Christian blieb stehen. Korb, Schaufel und Pflanzenschere neben sich, kniete Katya am Grab, in ihre Gärtnerarbeit vertieft und mit einem Ausdruck blanker Verlassenheit, den sie im Kontor nie an den Tag legte. Wie ein Eindringling kam Christian sich vor.
Katya hob den Blick. Was auf ihrem Gesicht aufschien, war nicht ganz ein Lächeln, aber freundlich genug, dass er näher trat.
»Wie geht es dir?«, fragte er.
Katya atmete tief durch. »Es muss.«
Sie fuhr damit fort, welke Blätter und tote Blüten zu entfernen.
Damals, Katya war noch nicht lange in Hamburg gewesen, hatte Thilo Blumentöpfe für sie bepflanzt, weil sie das Grünen und Blühen vor dem Fenster vermisste. Christian hingegen war nichts anderes eingefallen als Speckseiten und Käse und Bonbons, um das schöne russische Mädchen zu umgarnen.
»Er war der Beste von uns«, sagte er leise.
Schweigend beugte Katya sich tiefer über die Pflanzen.
»Trägt Grischa sich mit dem Gedanken, Jakob in die Firma zu holen?«, setzte Christian erneut an.
Fast ärgerlich rupfte Katya ein Unkraut heraus.
»Warum fragst du mich das?«
Die Hände in den Hosentaschen, grub Christian mit der Schuhspitze eine Rinne in den weichen Boden.
»Wir wissen ja nun recht wenig über diesen jungen Mann. Wo genau er herkommt. Was seine Absichten sind. Ob er überhaupt das Zeug dazu hat. Ohne rechte Ausbildung, nach ein paar Handlangerdiensten hier und da.«
»Bei Grischa hat dich das damals auch nicht gestört.«
Die große weite Welt hatte der junge Russe an jenem Wintertag in den Gemischtwarenladen gebracht. Den Hauch des Abenteuers und den Traum von einer glänzenden Zukunft. Ein frischer Wind, gewürzt mit dem Salz des Meeres, von dem sich Christian begeistert hatte mitreißen lassen. Er fragte sich, wo dieser Christian von damals abgeblieben war mit seinem Leichtsinn, seiner himmelsstürmenden Zuversicht.
»Das war etwas anderes, damals.« Er hörte selbst, wie hohl es klang.
In Katyas Augen blitzte es auf, mit jenem zärtlichen Spott, der ihr zu eigen war.
»Cathrin kennst du ihr Leben lang, und trotzdem willst du sie nicht in der Firma haben.«
Wie ein Wirbelwind fegte Cathrin auch nach Katyas Rückkehr noch durch das Kontor und die auf mehrere Speicherhäuser der Stadt verteilten Lagerräume. Cornelius Overbeck begegnete ihrer unerschöpflichen Wissbegier mit stoischer Würde, aber die anderen Angestellten murrten über die Unruhe, die Cathrin in den laufenden Betrieb brachte, und über ihre naseweise Art.
»Sie ist nicht aus deinem Holz geschnitzt.«
»Sie ist deine Tochter, Christian«, wandte Katya ein. »Eine echte Petersen durch und durch. Und die einzige Nachfolgerin, die du haben wirst.«
Keiner seiner Fehler, keine Schwäche war jemals Katyas scharfem Blick entgangen, und nie hatte sie dabei ein Blatt vor den Mund genommen. Dafür schätzte er sie, und doch hatte er sich genau davor in Hennys weiche und ewig verzeihende Arme geflüchtet.
»Irgendwann müssen wir alle loslassen«, fügte Katya leise hinzu. »Das habe ich inzwischen gelernt.«