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Cathrins Herz blutete für Katya, die erstarrt am Grab stand, plötzlich allein nach über dreißig Ehejahren. Durchscheinend blass wirkte sie in ihrem schwarzen Witwenstaat, das Blau ihrer Augen ausgewaschen. Eine Säule aus Eis, die beim leisesten Windhauch zu zerspringen drohte und sich jede mitfühlende Geste, jedes Beileidswort verbat.

Katyas Bruder Grischa, das Gesicht wie Granit und Silberspuren im dunklen Haar und dem Bart, ließ sich davon nicht abhalten. Mit derselben Zielstrebigkeit, mit der er früher Schiffe über die Meere gesteuert und sich selbst sicher durch die Stürme und Untiefen des Lebens gelenkt hatte, trat er zwischen seinen erwachsenen Kindern und den Enkelkindern hervor und legte den Arm um Katya.

Als ob er nicht nur seine Schwester in ihrem Schmerz auffing, so kam es Cathrin vor, sondern auch sie ihn. Schock und Trauer standen auf ihren einander zugewandten Gesichtern, und ein namenloses Entsetzen.

In Cathrins Ohren dröhnte es noch immer wie Hammerschläge, jenes panische Klopfen an der Haustür zu solch früher Stunde, dass es nichts Gutes verheißen konnte. Das Stimmengewirr und Hennys Schluchzen und wie Marie allein schon durch den Aufruhr zu heulen begann. Und dann hatte es Cathrin selbst den Boden unter den Füßen weggezogen.

Nicht zum ersten Mal seit der Todesnachricht hatte sie das Gefühl, dass man ihr etwas verschwieg.

2

Es hätte ein ganz gewöhnliches Familienfrühstück sein können, an diesem Sonntag in Hamm. Eines der Dörfer im Speckgürtel Hamburgs, wo die Villen gut betuchter Bürger nach und nach die Bauernhäuser verdrängten.

Henny Petersen hatte lange gezaudert, ob es nicht noch zu kühl war, dann aber doch nach dem Gottesdienst in der Dreifaltigkeitskirche die Tafel draußen decken lassen. In der Sonne strahlte das Porzellan mit der Säulenfassade der Villa um die Wette, und der Duft von Kaffee und Eiern und noch warmen Rundstücken mischte sich mit dem des frischen Grases und der Frühlingsblumen.

Die Kinder waren bereits vom Tisch entlassen, vom Ufer des Teichs sprudelten ihre Stimmen herüber. Aufmerksam beobachtet von ihrer Mutter Jette, falls Thalia, mit vierzehn Jahren die Älteste, die Aufsicht über ihre Geschwister vernachlässigen sollte. Claudius und Viktoria waren schon recht vernünftig, aber gerade Nesthäkchen Richard war ein ziemlicher Racker.

Mit knorrigen Fingern zerrupfte Großmutter Pohl die nächste Scheibe Hefezopf und tunkte Fetzen für Fetzen in ihren Milchkaffee. Fürsorglich zog Henny das wollene Tuch enger um die Schultern ihrer betagten Mutter und erntete dafür ein zahnloses Lächeln.

Cathrin lag die Idylle schwer im Magen. Genauso behaglich hatten sie und Marie bei Katya und Thilo am Tisch gesessen, keine drei Wochen war es her, und nichts, absolut nichts hatte ahnen lassen, dass sie Thilo niemals wiedersehen würden.

Nichts in ihrem Leben hatte sie darauf vorbereitet. Nicht der Tod von Großvater Pohl damals, von dem ihr nur wenige Erinnerungen geblieben waren, bevor ihn im Kontor ein Schlaganfall ereilt hatte. Zwei Monate, ehe er in den Ruhestand gehen und sich mit seiner Mathilde noch etwas von der Welt ansehen wollte, die er nur von Schiffspapieren und Zollerklärungen auf seinem Schreibtisch her kannte.

Es war auch nicht dasselbe wie bei Cathrins geliebtem Opa Arno Petersen, der ihr immer vorgekommen war wie ein gutherziger Riese aus einem Märchen. Tapfer hatte er sich gegen das Verwittern gestemmt, selbst als er schon dalag wie ein morscher Baum; fast fünfzehn Jahre war es jetzt her.

Mit Thilo hatte sie den Mann verloren, den sie als ihren eigentlichen Vater betrachtete. Ein solch unermesslicher, tiefgreifender Verlust für Cathrin, dass sie nicht wusste, wie sie ihn je verwinden sollte. Der sie hier an diesem Tisch überdeutlich spüren ließ, wie allein sie inmitten ihrer Familie war.

Sie blickte zu Marie, die das ganze Frühstück damit zugebracht hatte, an einem einzigen weich gekochten Ei zu löffeln. Kaum hörbar vor sich hin summend, ging sie jetzt ganz darin auf, mit ihren Elfenfingern die Schale in unzählige Stückchen zu zerbrechen und auf dem Teller zu einem gleichmäßigen Muster zu arrangieren.

Ihre dreiunddreißig Jahre sah man Marie nicht unbedingt an, ihr eigentümliches Wesen indes schon, spätestens auf den zweiten oder dritten Blick. Geistig minderbemittelt, lautete oft genug das Urteil Fremder, vorschnell gefällt. Maries Welt war bunter, facettenreicher, lauter, intensiver; eine beständig herandonnernde Brandung aus Sinneseindrücken, die ihren wachen Verstand durcheinanderwirbelte. Davor konnte sie sich nur abschotten, das hatte Cathrin früh verstanden.

Unvermittelt hob Marie den goldblonden Kopf von ihrer Puzzlearbeit. Ihre blauen Augen ließen tief blicken, in dieselbe uferlose Trauer hinein, die auch Cathrin empfand. Ein seltener Augenblick schwesterlicher Innigkeit, bevor Marie sich wieder dem Mosaik aus Eierschalen widmete, auf der Suche nach Ordnung in dieser furchterregend chaotischen Welt.

Hausmädchen Mine trat mit einer Kanne frischen Kaffees an den Tisch, bei Ludger Niebuhr machte sie den Anfang. Obwohl Jette in jeder Hinsicht eine glänzende Partie gewesen war, hatte Maries bloße Existenz ihre Chancen seinerzeit geschmälert. Zu groß waren die Befürchtungen potenzieller Schwiegereltern gewesen, so etwas könnte womöglich erblich sein.

Ludger Niebuhr hatte sich davon nicht abschrecken lassen. Deutlich älter als Jette, hatte er nicht nur Geschäftserfahrung und eigenes Vermögen mit in die Ehe gebracht, sondern auch die nötige Reife, um mit Jettes Launen und Allüren umzugehen. Die Brauen buschig, der grau melierte Backenbart üppig, erinnerte er an einen missgestimmten Straußenvogel, fand Cathrin.

»Menschlich war es gewiss eine nachvollziehbare Entscheidung. Schließlich hat er Katya stets auf Händen getragen«, ließ Ludger sich jetzt vernehmen und griff zu der nachgefüllten Tasse, ohne Mine in irgendeiner Form zu beachten. »Trotzdem halte ich eine solche Verschiebung der Machtverhältnisse innerhalb der Firma für bedenklich.«

Die Nachwehen der Beerdigung: Thilos Testament, in dem er jeder der drei Petersen-Schwestern die gleiche großzügige Summe vermacht hatte. Dass Maries Geld von Katya treuhänderisch verwaltet werden sollte und nicht etwa von Christian und Henny, hatte schon für hochgezogene Brauen gesorgt. Ludger nahm es dazu persönlich, dass er keinerlei Zugriff auf Jettes Erbteil haben sollte oder auch nur ein Mitspracherecht; eine Schmach für einen Mann wie ihn.

Vermutlich verbiss er sich deshalb wie ein Terrier in die Tatsache, dass Katya nun mit Thilos Anteilen die Hälfte von Petersen & Voronin in ihren Händen hielt. Cathrins Vater kaute genauso schwer daran, auch hier zogen Christian Petersen und Ludger einmal mehr an einem Strang.

»Wem hätte Thilo seine Anteile denn sonst vermachen sollen?«, fragte Cathrin herausfordernd. »Grischa? Oder Vater? Das Ergebnis wäre doch dasselbe gewesen.«

In gewohnter Freundlichkeit, aber eine Spur lauter als nötig, bedankte sie sich bei Mine für das Nachschenken. Zu subtil für Ludger, für solche Zwischentöne war er taub.

»Mein liebes Kind«, sprach er Cathrin ungeachtet ihrer fast fünfundzwanzig Jahre an. »Die Leitung eines solchen Unternehmens bedeutet eine große Verantwortung. Jede Entscheidung, die es zu treffen gilt, kann folgenschwere Konsequenzen nach sich ziehen, auf Jahre hinaus. Jegliche Sentimentalität ist da fehl am Platz.«

»Weder Katya noch Thilo haben sich jemals sentimental gezeigt, wenn es um das Geschäft ging«, hielt Cathrin dagegen, Jettes warnenden Blick ignorierend. »Katya hat das Unternehmen mitbegründet, der Eishandel war überhaupt erst ihre Idee. Sie hatte darin schon jahrelange Erfahrung, als du noch die Schulbank gedrückt hast.«

»Müssen wir das denn ausgerechnet heute …«, begann Henny, zaghaft bemüht, den Sonntagsfrieden zu wahren.