Der Teil eines Gletschers, der über ein Gefälle hinweg abbricht. Ein Sturz ins Chaos, bei dem das Eis in alle Richtungen bricht und aufreißt, sich zu Abgründen spaltet und in gefährlich instabilen Trümmern aufbäumt.
11
Jakob streckte seinen schmerzenden Rücken. Seine gerade noch warmen Atemwolken fielen kühl in sein Gesicht zurück; die Luft über dem zugefrorenen See knackte förmlich vor Kälte.
Dies war nicht der Winter, den er aus Lüneburg kannte, zuckerbestäubt und reifverkrustet. Auch der Winter, den er in Hamburg erlebt hatte, war anders. Der Himmel bleiern, der Schnee schwer und schnell grau vom Ruß der Stadt.
Das hier war eine blendend weiße Wüste, hinter der die Welt zu Ende schien. Von einer Klarheit, einer Schärfe, die keinen Raum für Zwischentöne ließ. Mit einer Unerbittlichkeit, die Menschen zu Staubkörnchen schrumpfte und keinen Fehler oder auch nur einen falschen Schritt verzieh. Auch nach fast zwei Monaten in Norwegen konnte Jakob nicht anders, als diesem eisigen Landstrich hier mit ehrfürchtigem Staunen zu begegnen.
Ein Schneeball traf ihn hart an der Schulter.
»Maulaffen feilhalten kannst du woanders«, rief Cathrin.
Breitbeinig stand sie auf dem Eis, in Männerhosen und einer dicken Jacke, die Pelzkappe tief in das gerötete Gesicht gezogen. Wie eine Polarforscherin oder ein weiblicher Trapper irgendwo in der Wildnis, keck und mit allen Wassern gewaschen.
»Aye, Captain«, erwiderte Jakob zackig.
In Cathrins Augen blitzte es schelmisch auf, und während sie beide den nächsten Schnitt im Eis machten, grinste Jakob in sich hinein.
Mütze und Handschuhe von sich geworfen, ließ Jakob sich auf den verschneiten Boden fallen und rieb sich mit zwei Handvoll Schnee über das glühende Gesicht. Eine Wohltat; unter seinen warmen Sachen war er nass geschwitzt, und frische Blasen pochten auf den Innenseiten seiner Hände.
Das Eis des Sees zu ernten war eine Knochenarbeit, sogar für einen jungen und starken Mann wie ihn. Wie viel härter und kräftezehrender musste es dann erst für die Männer sein, die weiter im Landesinneren das Eis für Petersen & Voronin bargen, wo es noch kälter war, das Gelände unwegsam.
Hinter ihm trat Cathrin aus der Hütte, die sie für sich allein hatte, und reichte ihm einen der beiden dampfenden Becher.
»Ist während der Eisernte wie Medizin«, erklärte sie, als sie sich mit gekreuzten Beinen neben Jakob niederließ. »Das sagt Katya immer.«
Der Kaffee war pechschwarz und so stark, dass er Jakobs Herzschlag zum Stolpern brachte.
»Da sitzen wir nun«, verkündete er nach den ersten Schlucken. »In Ungnade gefallen und verbannt.«
Cathrin nickte. »Auf dass wir unsere Lektion lernen und niemals vergessen.«
Ihre Blicke kreuzten sich, von wissender Ironie und geradezu verschwörerisch.
In der Enge der Dachkammer war es nicht ausgeblieben, dass Jakob mitbekam, wie Cathrin monatelang an einer neuen Idee für das Unternehmen tüftelte. Die feierliche Einweihung des Suezkanals, endlich in greifbare Nähe gerückt, hatte den Ausschlag gegeben. Das Mammutprojekt, das Mittelmeer und Rotes Meer verband, verkürzte nicht nur den Seeweg nach Asien um einen ganzen Monat. Es versprach auch der bislang eher abgelegenen Region regen Zulauf von Händlern und Durchreisenden und einen nie da gewesenen wirtschaftlichen Aufschwung.
Eifrig hatte Cathrin die Nachrichten studiert, mit Tristan den Kopf zusammengesteckt, wenn dieser ins Kontor kam, und über den Mustern gebrütet, die sie sich bei Händlern in der ganzen Stadt besorgte. Norwegisches Eis von Petersen & Voronin sollte künftig in den Gläsern der Luxushotels und Paläste von Kairo und Alexandria klingeln, und im Gegenzug plante Cathrin, ägyptische Baumwolle einzukaufen und Rosenöl aus der Türkei. In erster Linie jedoch interessierte sie sich für Kaffee aus Arabien und vom Horn von Afrika.
Nur kleine Mengen würden sie beziehen können, mehr gab der Anbau dort nicht her. Ein streng limitiertes und entsprechend teures Luxusgut schwebte Cathrin dabei vor, das aus der Masse brasilianischen Kaffees herausstach, der hierzulande die Tassen füllte. Noch exquisiter als der Kaffee, den Petersen & Voronin bislang aus Indien und Java importierte. Sogar die Markennamen und Werbetexte hatte Cathrin schon dafür skizziert und die Überlegung angestellt, den Kaffee frisch geröstet und in Tüten verpackt den Kunden nach Hause liefern zu lassen.
Und dann, ein paar Tage, bevor Cathrin ihr Vorhaben am runden Tisch hatte vorstellen wollen, war es Ludger gewesen, der dieselbe Idee zur Sprache gebracht hatte.
»Danke«, sagte Cathrin jetzt leise, »dass du mir den Rücken gestärkt hast.«
»Nicht der Rede wert.«
»Doch. Das war mächtig anständig von dir.«
Jakob schwenkte den Rest Kaffee im Becher umher. Selbstredend hatte er sich hingestellt und bezeugt, dass Cathrin bereits geraume Zeit an ihrem Entwurf gearbeitet hatte, das war das Mindeste gewesen. Sein Wort war allerdings kein Beweis dafür, dass Ludger in Cathrins Schreibtisch gestöbert und ihre Idee für seine ausgegeben hatte, genauso wenig wie Cathrins Unterlagen selbst. Solche Geschäfte lagen gerade in der Luft, hatten die drei Eisbarone in salomonischer Weisheit befunden und die Lorbeeren sowohl Cathrin als auch Ludger zugesprochen.
»Ich wünschte, ich hätte mehr tun können«, murmelte Jakob.
Einen Vorgeschmack darauf hatte er erhalten, wie es in einem solchen Unternehmen zuging. Ein Schachern um Macht und Einfluss, ein Ringen um den kleinsten gemeinsamen Nenner und taktische Winkelzüge, die Jakob Unbehagen bereiteten.
»Die ganze Zeit«, ließ Cathrin sich leise vernehmen, »versuche ich, mir zu sagen, dass es darauf nicht ankommt. Hauptsache, wir machen dieses Geschäft, und wir machen es so, wie ich es vor Augen hatte. Es genügt mir aber nicht.«
Nachdenklich wischte sie mit dem Daumen Kaffeetropfen vom Becherrand, grimmig die Brauen gerunzelt.
»Am meisten wurmt mich der Gedanke«, sprach sie dann weiter, »dass es womöglich Ludger sein wird, der mit meinem Vater nach Kairo fährt. Seine langjährige Geschäftserfahrung, sein Verhandlungsgeschick hin oder her … Es war meine Idee, ich sollte dabei sein, ich habe es genauso verdient. Ich will auch die Pyramiden sehen. Wer will denn nicht ein Mal im Leben zu den Pyramiden und der Sphinx? Stattdessen verbannen sie mich in den Norden.«
Erfahrung im Eis sollten sie hier sammeln, Cathrin und Jakob. Vielmehr schien es aber darum zu gehen, über den Winter Abstand von Ludger zu gewinnen, davon war Jakob überzeugt.
»Du machst deine Sache hier gut«, bemerkte er.
Anmaßend von ihm, das überhaupt beurteilen zu wollen, als Neuling im Eis. Und doch bewunderte er die sichere Art, mit der Cathrin zum ersten Mal allein die Aufsicht über die Eisernte hier am See führte, während Grischa die in den Bergen leitete.
»Mir wäre wohler, Katya wäre mit hier«, gestand Cathrin. »Ich habe nicht ihr Gespür für das Eis.«
Einige Herzschläge lang sann sie vor sich hin, bevor sie tief durchatmete, als müsste sie eine Last von sich abwerfen.
»Wenn ich ehrlich bin«, fuhr sie dann fort, »kann ich dem Eis nicht sonderlich viel abgewinnen. Für mich ist Eis einfach Eis.«
Jakob gab einen kleinen Laut der Sympathie von sich.
»Als ich noch klein war«, erwiderte er, »erzählte meine Mutter, Grischa habe den Wind und den Frost in den Knochen. Wie einen Regenmacher habe ich mir meinen Vater vorgestellt, einen Wolkenbeschwörer und Sturmbezwinger. Ich war überzeugt, ich könnte genauso den Wind zähmen oder ein Gewitter an einem heißen Sommertag herbeizaubern. Wenn ich nur fest genug daran glaubte.«
Da saßen sie, an diesem zugefrorenen See, mit dem für die Eisbarone alles erst so richtig begonnen hatte. Ein Erbe, das wie eine Bürde auf den Schultern von Jakob und Cathrin lag. Für Jakob war es vermutlich leichter, er hatte nicht sein ganzes Leben mit dieser Last verbracht.