Ein paar Monate hatte er in Hamburg bleiben wollen, zweieinhalb Jahre waren daraus geworden. Schnell hatte er festgestellt, dass er nicht das charmante Fingerspitzengefühl eines Christian Petersen besaß, wenn dieser einen potenziellen Käufer durch das Stofflager führte. Nicht die mal polternde, mal listige Selbstherrlichkeit eines Ludger Niebuhr, die offenbar nötig war, um in Geschäften einen guten Schnitt zu machen. Umso mehr bewunderte Jakob, wie Grischa sowohl seinen Angestellten als auch den Kunden auf Augenhöhe begegnete, freundschaftlich geradezu, und die von Fachwissen bestimmte Autorität Katyas; daran wollte Jakob sich ein Vorbild nehmen.
Manchmal kam er sich tatsächlich wie ein Hochstapler vor, der vorgab, eines Tages ein findiger Geschäftsmann zu sein. Es war Grischa, der ihn fortwährend ermunterte, geduldig zu bleiben und darauf zu vertrauen, dass er seinen eigenen Weg finden würde, genau wie er selbst früher als junger Mann.
Bis dahin war Jakob zufrieden, ein kleines Rädchen im reibungslos tickenden Mechanismus des Unternehmens zu sein, Buchhaltung und Rechnungswesen zu lernen, Steuersätze und Zollbestimmungen. Wo Kaffee und Gewürze, Leinen und Kattun und Musselin herkamen, wie man sie herstellte und was sie so besonders machte. So wie er hier in Norwegen etwas über das Eis lernte, auf das sich der Wohlstand von Grischa Voronin und den Petersens gründete.
»Ich bin trotzdem gern hier«, hörte er Cathrin sagen. »Mir war immer bewusst, wie privilegiert ich aufgewachsen bin. Und genauso, dass man echten Reichtum nicht mit Geld kaufen kann. Dass die einfachsten Dinge die wertvollsten sind. Gutes Essen. Ein Becher heißen und starken Kaffees in der Kälte. Ein frisch bezogenes Bett. Der Ruf der Schnee-Eule und das gläserne Licht eines Frostmorgens. Das habe ich nicht nur bei Thilo und Katya gelernt, sondern auch von Silja in Tromsø und von den Leuten hier im Eidfjord.«
Jakob verstand, was sie meinte. Da war etwas an diesem Winter, das alles Unnütze, Überflüssige und Aufgesetzte abspaltete und nur übrig ließ, was echt und wahrhaftig war.
Cathrin selbst schien aus dem Stoff dieses Winters gemacht. Mit ihrem scharfen Blick, einer bestechend klaren Unterscheidung von Richtig und Falsch. Im Einklang mit dieser rauen Gegend schien sie zu sein, genauso unverfälscht und fordernd, nichts für Hasenherzen. Und dennoch war es genau hier, dass sie eine verblüffend andere Seite zeigte, leicht und verspielt wie tanzende Schneeflocken, ihr Gesicht offen wie der weite Himmel.
Einzigartig war sie. Sogar in dieser Familie von starken und eigenwilligen Charakteren, allen voran die Frauen. Auch gerade Henny Petersen, die sich oftmals hilflos und geradezu naiv gab, aber genau zu wissen schien, wie sie damit alle um sich herum zu ihren Gunsten manipulierte. Besonders Christian Petersen, der dann seine ganze Aufmerksamkeit auf sie richtete, auf fürsorglich nachsichtige Weise. Als würde sie ihn stets an eine alte Schuld erinnern.
Dieses Weihnachten hatten sie sich nicht allesamt zu Gänsebraten in der Petersen-Villa in Hamm eingefunden; dieses Weihnachten hatten sie bei eingesalzenen Lammrippchen und gestampften Rüben gefeiert, in einer gemütlichen Runde am Tisch von Silja Guðmundsdóttir, unter den Nordlichtern am Polarkreis.
Eifersüchtig hatte Jakob über jeden Blickwechsel, jedes Wort und jede Geste zwischen Magnus und Grischa gewacht. Bis er begriff, dass sein doppelt so alter Halbbruder einfach mehr Zeit gehabt hatte, Grischas Sohn zu sein. Genau wie Jakob es zuvor bereits mit Tristan und Aurora erlebt hatte, Tristan mittlerweile verheiratet und selbst Vater. Wann immer Jakob daran dachte, dass er nochmals einen Bruder, eine Schwester in Indien hatte, wurde ihm vollends schwindlig im Kopf.
Eine weit verzweigte Sippe, die über Blutlinien hinausreichte. Faszinierend für Jakob, der allein bei seiner Mutter groß geworden war, der Stiefvater so spät, so wortkarg in sein Leben getreten, dass er Jakob bis zum Schluss wie ein Gast vorgekommen war, der einfach nur vergessen hatte abzureisen.
Kannst ja mal schreiben, hatte der Stiefvater zum Abschied gebrummt, als Jakob mit geschultertem Seesack auf die Tür zugegangen war. In einem Tonfall, der Jakob zu verstehen gab, dass der Stiefvater keinen großen Wert darauf legte und auch genau wusste, dass Jakob nicht mehr von sich hören lassen würde.
Womöglich war Jakob deshalb so lange in Hamburg geblieben. Um seine Wurzeln kennenzulernen, bevor er sich selbst auf die andere Seite der Welt verpflanzte.
Mit der einfallenden Dämmerung zog ein ungemütlicher Wind auf. Jakobs Beine fühlten sich steif an, die Finger taub, und trotzdem lockte ihn nicht einmal das Feuer vor dem Holzhaus der Männer oder das deftige Aroma des Eintopfs. Er wollte einfach weiter hier sitzen bleiben, neben Cathrin.
Dampfend drängten sich die Rentiere am Seeufer zusammen. Lejo, das Oberhaupt der Leute vom Eidfjord, hatte noch einmal nach den Tieren gesehen und stapfte jetzt durch den Schnee heran. Das Gesicht nach bald fünfzig Lebensjahren verwittert wie Firnschnee und Silberfäden im Flachsblond, rief er Cathrin und Jakob etwas zu.
»Was hat er gesagt?«, fragte Jakob, der gerade erst dabei war, die hiesige Mundart zu lernen.
»Dass wir uns noch den Hintern abfrieren«, lautete Cathrins rustikale Antwort.
Lachend stellten sie sich auf die Beine, klopften sich den Schnee aus den Kleidern und stampften mit den Füßen auf, um wieder etwas Wärme zirkulieren zu lassen.
»Ich wünschte, du hättest Harri und Birra noch kennengelernt«, sagte Cathrin dann leise und mit unverhohlener Wehmut. »Die beiden waren so etwas wie Familie für Katya und Grischa. Sie hätten dich gemocht. Nicht nur, weil du Grischas Sohn bist.«
Jakob schwieg verlegen. Ein feines Knistern, ein zartes Klirren irgendwo über ihm war eine willkommene Ablenkung. Den Kopf in den Nacken gelegt, fragte er sich, ob die massiven Eiszapfen oben am Dachgiebel heute Morgen auch schon da gewesen waren.
Einen blinzelnden Augenblick lang sah es fast so aus, als ob die glänzenden Spitzen unter dem Wind erzitterten.
Ein scharfer Laut peitschte durch die Luft, und Cathrin stürzte sich auf ihn. In einem Knäuel aus Armen und Beinen schlug Jakob rücklings auf, just als Eiszapfen neben ihm wie Geschosse in den Schnee hagelten.
Wie betäubt lag er da, unfähig, sich zu rühren, und nicht nur, weil Cathrin erstaunlich schwer auf ihm lastete. Ihr Gesicht war seinem so nahe, dass er ihren Atem schmeckte, wie Kaffee und saftig grüne Äpfel. Unter den Eiskristallwimpern schimmerten ihre Augen hell wie Sterne, sogar noch im rasch schwindenden Licht des Tages. Ein Lächeln entfaltete sich zwischen Cathrin und Jakob, zittrig und ungläubig; mit jedem Luftholen schienen sie tiefer ineinander zu versinken.
Jäh riss etwas in Cathrin. Die Stirn zornig gefurcht, ruderte und strampelte sie gegen ihn an, bis sie sich hochgestemmt hatte und in großen Schritten davonhastete. Die Tür, die sie hinter sich zuschlug, ließ weitere Eiszapfen in den Schnee herabschießen wie Fallbeile.
Benommen setzte Jakob sich auf und tastete über seine Brust. Überzeugt, einer der Eiszapfen hätte ihn getroffen, mitten ins Herz.
12
Jedes Mal, wenn Cathrin aus dem Eis zurückkehrte, überraschte sie der Frühling in Hamburg. Vor wenigen Tagen war sie noch im Eidfjord mit rot gefrorener Nase durch den Schnee gestapft, an Bord des Frachters durch eine stahlgraue und von einem eisigen Wind aufgewühlten Nordsee gepflügt, und hier brachen schon die Knospen auf, zeigte sich das erste Grün, vom Wechselspiel aus Märzsonne und Frühlingsregen aus der Reserve gelockt.
Im Lagerraum von Petersen & Voronin herrschte jedoch noch immer der Winter, den sie mit den aufgetürmten Eisblöcken aus Norwegen mitgebracht hatten. Einer von insgesamt drei Speichern, die das Unternehmen sein Eigen nannte, jeder davon wie ein Haus der Jahreszeiten. Vom kalten Eislager in den unteren Stockwerken zum rauchigen Herbstduft von Kaffee und Tee auf den Speicherböden darüber, von den Gewürzen eines Tropensommers bis hin zu der ganzen Palette an Frühlingsfarben, in denen die Stoffballen leuchteten.