Eine der dicken Jacken übergezogen, die vor der Tür stets griffbereit am Haken hingen, und ein Klemmbrett in den behandschuhten Händen, zählte Cathrin stumm die gefrorenen Blöcke, die mittels eines Flaschenzugs von der Spitze des torfummantelten Eisbergs herabgelassen wurden.
Dick gefütterte Arbeitshandschuhe trugen auch die Männer, die sich die Blöcke nacheinander zureichten und schließlich durch die Luke an der Wasserseite des Speichers in einen der Kähne umluden. Über das Nikolaifleet würde das Eis den Hafen erreichen, von wo aus es seine Reise nach Indien antrat, nach Singapur und Java oder Hongkong.
Eine monotone, mühselige und langwierige Prozedur, bei der ihnen nichtsdestoweniger die Zeit im Nacken saß. Kein Tropfen Schmelzwasser mehr als nötig sollte entstehen, und der Platz hier wurde gleich wieder gebraucht; jeden Tag konnte Grischa mit dem Eis aus den norwegischen Bergen eintreffen. Abzüglich des kleinen Anteils, der unmittelbar aus dem Eidfjord nach London verschifft wurde, um ein paar besonders finanzstarke Kunden sofort zu beliefern, sollte der überwältigende Rest dieses tiefgekühlten und damit äußerst haltbaren Eises hier lagern. Bis es sich im Juli auf den weiten Weg nach Australien machen würde, rechtzeitig für den heißen und trockenen Sommer dort. Noch auf Seglern alter Schule, weil es auf dem Weg dorthin nicht genug Kohlestationen gab; auf dem Rückweg würden sie Wolle und Schaffelle geladen haben.
Cathrin war aufmerksam bei der Sache. Eis mochte für sie einfach nur Eis sein, aber es war der größte und gewinnträchtigste Posten in den Bilanzen. Das Fundament der Firma, so stark und solide wie die Grundmauern dieses Speichers, den die Eisbarone seinerzeit aus den Brandruinen wieder hochgezogen hatten.
Mit halbem Auge sah sie Jakob zu, wie er bei den Eisblöcken mit anpackte und vor der Abfahrt eines jeden Kahns kontrollierte, ob der schützende Strohmantel des Eises nicht irgendwo auf der glatten Oberfläche abgerutscht war.
Cathrin mochte die Art, mit der er den Arbeitern begegnete, freundlich und nie herablassend. Mit einer Autorität, die nicht daher zu rühren schien, dass er der Sohn eines der Firmengründer war, sondern weil seine Aufgabe schlicht darin bestand, das Verfrachten des Eises zu überwachen.
Einer der Arbeiter gab eine flapsige Bemerkung von sich, und das Lachen, das Jakobs Gesicht erhellte, ließ auch Cathrin schmunzeln.
Eine eigentümliche Mischung aus Unwillen und kribbelnder Neugierde auf Jakob hatte sie aus Norwegen mitgebracht; eine Empfindung, auf die sie sich keinen rechten Reim machen konnte.
Die Tür hinter Cathrin öffnete sich, und Christian steckte den Kopf herein.
»Hast du einen Augenblick?«
Cathrin runzelte die Stirn. Im Allgemeinen respektierte man im Unternehmen die Arbeit jedes Einzelnen und störte nur, wenn es wirklich wichtig war und keinen Aufschub duldete. Cathrin hatte nicht einmal gewusst, dass ihr Vater hier im Speicher an der Neuen Burg zu tun hatte, sie hatte ihn im Kontor geglaubt, im Stammhaus bei den Mühren. Unwillkürlich fragte sie sich, ob er sie sprechen wollte, weil ihr ein grober Schnitzer unterlaufen oder aber etwas passiert war. Ein Schiffsunglück, ein Börsencrash, die ans Licht gekommene Unterschlagung eines Mitarbeiters.
»Sicher«, entgegnete sie bedrückt. »Jakob, könntest du mich bitte kurz ablösen?«
Als sie ihm das Klemmbrett übergab, flossen ihre Atemwolken ineinander.
Christian schloss die Tür zum Lagerraum hinter sich und Cathrin. Hier unten im Stiegenhaus waren die Mauern unverputzt und ließen den roten Backstein sehen, der zu Hamburg gehörte wie Elbe und Michel.
»Was gibt es denn?«, fragte Cathrin betont salopp, aber mit einem nervösen Flattern in der Magengegend.
»Ich habe mir überlegt …«, begann ihr Vater.
Mit einer Unschlüssigkeit, die ihm sonst fremd war, nahm er die Aushänge auf dem Schwarzen Brett in Augenschein, den Zeitplan für die Lieferungen und die Sicherheitshinweise. Aufmerksam sah Cathrin ihren Vater an, während sie die Handschuhe abpellte und auf ihre Finger hauchte; trotz des Lammfellfutters waren ihre Hände klamm und steif.
»Vielleicht solltest du mit nach Kairo«, sagte er schließlich unvermittelt. »Was meinst du?«
Ganz nebensächlich hatte er es vorgebracht, als ginge es um eine Einladung bei den Amsincks oder Godeffroys, um einen Besuch des Pferderennens in Horn.
Cathrins Herz schlug höher, für einen Augenblick vergaß sie sogar zu atmen. Anmerken ließ sie sich nichts davon, sie reckte nur selbstbewusst das Kinn.
»Auf jeden Fall sollte ich das.«
In den blauen Augen ihres Vaters blitzte es auf. Wie belustigt darüber, dass sie sich weder überschwänglich bedankte noch ihm um den Hals fiel.
»Gut. Dann lasse ich für dich ebenfalls eine Passage buchen.«
Mit einem knappen Nicken wandte er sich um und lief die Treppen hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, wie es seine Art war.
Erst als er außer Hörweite war, erlaubte Cathrin sich einen leisen Freudenschrei und wirbelte um ihre eigene Achse, bevor sie mit Schwung die Tür zum Lagerraum aufriss.
13
Die Tür zu der kleinen Wohnung hatte sich gerade erst geöffnet, Cathrin kaum den Schritt über die Schwelle gemacht, als sie schon ihren Hut und die pralle Tasche fallen ließ und die Arme um Gerrit schlang. Die Wange gegen seine Schulter gepresst, badete sie in seinem Geruch, den sie so lange vermisst hatte, nach Wäschestärke und wie Zimt und Ingwer. Ein halbes Jahr lang hatten sie einander fast nur zwischen Tür und Angel gesehen.
»Du bist ganz nass«, murmelte er in ihr Haar, von südlicher Sonne milchweiß gebleicht.
»Es regnet«, erwiderte sie genauso leise. »Juniregen.«
»Ich weiß.« Sie konnte hören, wie er schmunzelte. »Regnet es an Sankt Barnabas, schwimmen die Trauben bis ins Fass.«
Lachend sahen sie einander ins Gesicht, bevor er sie bei der Hand nahm.
»Komm.«
Die feuchten Schuhe abgestreift, saß Cathrin mit Gerrit auf der Decke, die er auf den Bodendielen ausgebreitet hatte; ein Picknick in der Stube, während der Hamburger Regen außen an den Fenstern hinabrann. Bei Wein und Käse, geräuchertem Schinken und Melone erzählte Gerrit von belgischen Pralinen und französischem Cidre, von Jakobsmuscheln und Hummer an der wilden Küste der Bretagne und von den Champagnersorten, die er in lieblichen Flusstälern gekostet hatte.
Cathrin indes schwärmte von gebratenen Okraschoten in Kairo und von Zuckerzeug aus Mandeln, Pistazien und Aprikosen, während sie die Tasche voller Mitbringsel ausleerte. Seidenschals und Glasperlen und Fläschchen duftender Öle für Gerrits Schwestern, für Jordis Kopstede und ihre Mädchen; magische Geduldsspiele für die Jungen, ein Lederfutteral für Fietes Werkzeug und klebrige Süßigkeiten. Auf den souqs der Stadt bei bärtigen Händlern erhandelt, die mit Willkommensgesten zu Malventee einluden, das Feilschen um den Preis offenbar mehr Zeitvertreib und eine Frage der Ehre denn wirtschaftliche Notwendigkeit.
»Am Ende machst du uns noch Konkurrenz«, neckte Gerrit sie, während er sich durch Kardamom, Sternanis, Nelken und getrocknete Minze schnupperte, die sie ihm mitgebracht hatte.
Gekonnt blasiert hob Cathrin die Brauen. »Oder ich werde künftig euer wichtigster Lieferant.«
»Oder das«, gab Gerrit mit zuckendem Bart zurück.
Für Betje und Hanno hatte Cathrin ein Schachspiel gekauft. Genau so eines, wie es die Männer in ihrer Mitte hatten, die bei Mokka und Wasserpfeife vor den Kaffeehäusern Kairos zusammensaßen. Manchmal, zu vorgerückter Stunde, hatten sich die Schachspieler in Musiker verwandelt, ihre Lieder von einer solchen Melancholie, einer unerfüllbaren Sehnsucht, dass Cathrin wohlige Schauder den Rücken hinabliefen.
In Kairo spielte es keine Rolle, welches Jahr man gerade schrieb oder sogar welches Jahrhundert. In diesem Irrgarten aus himmelhohen Torbögen und Mauern aus Kalkstein, Mosaiken aus blauen und weißen Fliesen und geschnitzten Türen. Wo sich Wäscheleinen von einem überhängenden Balkon zum nächsten spannten und Kupferwaren und bunte Glaslaternen Regenbogenlichter auf die Gasse warfen, die Luft gewürzt von Spezereien und Gesottenem und Räucherwerk. Zwischen farbenprächtigen und perlenglitzernden Stoffen, kostbaren Schatullen und Perlmutt glich jede Werkstatt eines Gold- oder Silberschmieds, eines Obsidian- und Alabasterschnitzers der Schatzhöhle Ali Babas, von der Cathrin so lange geträumt hatte.