Auf den Ellbogen gestützt und die Beine von sich gestreckt, hatte Gerrit die mitgebrachten Kaffeebohnen durch die Finger gleiten lassen, während er zuhörte. Jetzt legte er das Päckchen zur Seite und setzte sich auf. Eine Hand auf Cathrins Nacken, zog er sie wortlos zu sich heran.
Das hatte Cathrin am meisten vermisst. Diese endlosen Küsse und wie Gerrits bärtiger Mund über ihre Haut strich, während sie spielerisch miteinander rangelten und rauften, Knöpfe aufsprangen und Säume hochrutschten.
»Halt«, raspelte Gerrit irgendwann heiser. »Cathrin, halt.«
Cathrin hörte nicht auf ihn. Der heiße Hunger, den sie in diesem Jahr aus dem Eis mitgebracht hatte, war übermächtig und verwandelte ihr Innerstes in schmelzendes, tropfendes Wachs. Umso fester schlang sie ein Bein um Gerrit, packte ihn bei den Haaren und grub herausfordernd die Zähne in seinen Hals.
Gerrit ergriff ihre Hände und drückte sie zu Boden. Sein ganzes Gewicht musste er aufbieten, um Cathrin zum Stillhalten zu zwingen, einen fiebrigen Glanz in seinen Augen, ein trunkenes Lächeln um den Mund.
»Wenn ich dir jetzt schon ein Kind mache«, raunte er atemlos, »jagt mich dein Vater mit Schimpf und Schande aus der Stadt. Und meine Mutter hilft ihm vermutlich dabei.«
Das Lachen blieb Cathrin im Hals stecken, etwas in seiner Stimme irritierte sie. Fragend blinzelte sie zu ihm hinauf, plötzlich zahm und fast scheu.
»Lass uns heiraten«, sagte er.
Die Beine im Sessel unter sich gezogen, starrte Cathrin in die Flammen.
Es fühlte sich falsch an, im Juni vor dem prasselnden Feuer im Kamin zu sitzen, eine Tasse Tee in den Händen. Und doch war es genau das, was sie jetzt brauchte. An diesem Tag, an dem der Regen eine unzeitige Dämmerung mit sich gebracht hatte, der natürliche Lauf der Jahreszeiten wie aufgehoben schien. Nachdem sie vor Gerrit davongelaufen und in einer Mietdroschke nach Teufelsbrück geflüchtet war.
Lange hatten sie und Katya geredet. Auf einen Rat hatte sie gehofft, auf eine einfache Antwort.
Stattdessen schärfte sich einen langsamen Wimpernschlag nach dem anderen das Bild, das Cathrin von ihrer Familie hatte. Einen tiefen dunklen Wald sah sie jetzt vor sich, über Jahrzehnte gewachsen und windumtost. Hinter jedem Baum schienen heimliche Leidenschaften und enttäuschte Gefühle zu lauern, jederzeit konnten Äste brechen und blutige Wunden ritzen, das tückische Unterholz einen ins Straucheln bringen. Und trotzdem schlug man sich weiter durch, es gab keinen anderen Weg.
Beim nächsten Schluck sah sie zu Katya, die auch im vierten Jahr noch an ihrem Trauerschwarz festhielt. Die erste große Liebe von Cathrins Vater, wie Grischa Thilos erste Liebe gewesen war. Dennoch hatten Thilo und Katya zueinander gefunden und sich nie wieder losgelassen. Auch wenn ihr gemeinsamer Weg alles andere als geradlinig verlaufen war.
»Warum bist du trotz allem bei Thilo geblieben?«, wollte Cathrin wissen. »Wegen der Firma?«
»Die Firma«, wiederholte Katya nachdenklich. »Unser guter Ruf. Weil du dann da warst und uns beide brauchtest. Einzeln oder zusammengenommen sicher alles gute Gründe. Und doch hätte mich nichts davon abgehalten, meine Sachen zu packen und zu gehen, wenn ich es gewollt hätte.«
»Wolltest du das je?«
Katya nickte.
»Ein Mal war ich so weit, ja. Ich wollte alles hinter mir lassen und irgendwo neu anfangen. Mit einem anderen Mann. Ich hatte sogar schon die notwendigen Vorbereitungen getroffen, mir meine Anteile auszahlen zu lassen.«
»Und dann?«
Katyas Blick verlor sich im Feuer. »Dann kam es doch nicht dazu.«
»Wie du das sagst, klingt es, als wäre die Firma ein Dämon, der einem alle irdischen Wünsche erfüllt, aber einen dafür lebenslang in Ketten hält.«
Das Lächeln ihrer Tante fiel spöttisch aus.
»So kann es einem vorkommen. Wen sie einmal verschlingt, den gibt sie nicht so leicht wieder frei.«
Mit einem langgezogenen Ausatmen ließ Cathrin den Kopf an der Sessellehne ruhen.
Es könnte so leicht sein. Niemand würde von ihr erwarten, dass sie sich als Gerrits Frau hinter den Herd zurückzog, das hatte er selbst so gesagt, das hatte Betje als seine Mutter ihm vorgelebt. Hoch erhobenen Hauptes könnte Cathrin den täglichen Kleinkrieg mit Ludger hinter sich lassen und all ihr Wissen, ihre Ideen und Energie in den Feinkosthandel stecken.
Nur war es nicht das, was Cathrin wollte. Cathrin wollte Petersen & Voronin, nichts anderes.
Womöglich sogar mehr, als sie Gerrit wollte.
Katya schenkte Cathrin und sich selbst nach. Behutsam stellte sie die Teekanne wieder ab.
»Christian würde es nie aussprechen, vielleicht ist er sich dessen noch nicht einmal bewusst … Aber genau deshalb ist er dagegen, dass du unsere Nachfolge antrittst. Weil er dich davor bewahren will, dich von den Geschäften auffressen zu lassen und dabei dein eigenes Glück zu verpassen.«
Überlaut drang das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims zu Cathrin durch. Sogar das Rauschen des Regens draußen war plötzlich von hektischer Dringlichkeit.
Worauf warten wir denn noch?, hatte Gerrit gefragt. Es sind doch schon fast drei Jahre.
Cathrin wusste nicht, worauf sie noch wartete. Als reichlich spätes Mädchen wurde sie inzwischen betrachtet, mit achtundzwanzig Jahren. In den Augen von Nachbarn und Bekannten war eine Heirat oder wenigstens das Anzeichen einer Verlobung überfällig, neue Kunden und Lieferanten im Kontor schlingerten bei ihr hilfesuchend zwischen Fräulein und Frau. Und immer häufiger hing die unausgesprochene Frage nach einem unsichtbaren Makel in der Luft. Nach einem Defekt.
Während Gerrit mit sechsundzwanzig Jahren gerade ins allerbeste Mannesalter kam, ihn jedes weitere Jahr als Junggeselle nur noch begehrenswerter machte. Das sah sie jedes Mal in den Augen der Frauen und jungen Mädchen, wenn sie einen Abstecher nach Altona in den Laden machte oder an Gerrits Seite über den Jungfernstieg flanierte, mit ihm im Alsterpavillon saß, sie zusammen durch den Botanischen Garten spazierten oder den Sonntag im Zoologischen Garten mit seinem Meerwasseraquarium verbrachten.
»Hattest du je das Gefühl«, fragte Cathrin zaghaft, »die Zeit wäre dein Feind?«
In Katyas Augen blitzte es auf. »Fast mein ganzes Leben. Als Mädchen konnte ich es nicht erwarten, eine Frau zu werden. Die Liebe wollte ich erleben und war doch so lange noch zu jung dafür. Und als ich endlich alt genug war, legte mir die Zeit einen Stein nach dem anderen in den Weg. Mit verpassten Chancen, falschen Augenblicken, ihrem widersprüchlichen Verlauf.«
Einige Herzschläge sann sie nach. Als sie weitersprach, klang ihre Stimme dunkler als sonst.
»Nie jedoch habe ich die Zeit als unerbittlicher empfunden als damals, als ich vergeblich darauf wartete, dass mir ein Mann ein eigenes Kind schenken würde. Mit jedem Jahr, das verstrich. Mit jedem Monat. Ich habe lange gebraucht, um mich damit auszusöhnen.«
Dass ihre fruchtbaren Jahre gezählt sein würden, wusste Cathrin. Und trotzdem war ihr der Gedanke an ein Haus voller kleiner Cathrins und Gerrits so fern wie Mars und Venus.
»Ich hatte dennoch großes Glück in meinem Leben«, hörte sie ihre Tante leise sagen. »Meine Ehe mit Thilo machte einen Teil dieses Glücks aus. Mein Seelengefährte war er, mit niemandem sonst hätte ich lieber all diese Jahre verbracht. Und der Preis, den es dafür zu zahlen galt, war nicht zu hoch.«
Cathrin dachte an Grischa, der seine Lieben so leichtherzig und unbekümmert auskostete wie alles andere im Leben, während Thilo seiner heimlichen Leidenschaft nur im Verborgenen nachgegeben hatte, mit Katyas Segen.