Cathrin erinnerte sich noch gut daran, wie gelöst und mit einem stillen Glück in den Augen Thilo von seinen Reisen nach Paris und Venedig und Rom zurückkehrte und Katya danach umso mehr auf Händen trug. Damals für Cathrin ein Ausdruck ihrer tiefen Verbundenheit, eines wechselseitigen Vertrauens, machte ihr diese Erinnerung im Rückblick das Herz schwer.
»Ich weiß nicht, ob ich das gekonnt hätte«, murmelte Cathrin.
»So etwas kann man im Voraus auch nicht wissen. Aber irgendwann weiß man es«, erwiderte Katya sibyllinisch. »Deshalb habe ich dir davon erzählt.«
Der Regen rauschte draußen weicher herab, kaum zu unterscheiden vom Wind, der durch die Bäume strich, oder dem Fließen der Elbe.
Cathrins Gedanken wanderten zu Jakob. Ausgerechnet.
Ihr Cousin, der ihr im Kontor und den Lagerräumen die längste Zeit wie ein junger Hund an den Fersen gehangen hatte, sogar noch diesen Winter im Eis. Die unverhohlene Bewunderung, mit der er zu ihr aufsah, hätte ihr schmeicheln müssen, stattdessen war sie ihr lästig gewesen, ein permanentes Jucken zwischen den Schulterblättern. Jakob war doch noch ein halber Bursche, gerade einmal zweiundzwanzig Jahre alt, und ihr Rivale noch dazu, das hatte Cathrin keineswegs vergessen. In ihm den kleinen Bruder zu sehen, den sie nie gehabt hatte, war ihr Weg gewesen, sich auf halbwegs freundschaftlichen Fuß mit ihm zu stellen.
Dann hatte sie ihn zur Seite gestoßen, um ihn vor den herabstürzenden Eisnadeln zu bewahren, und war mit ihm zu Boden gegangen. Ein Moment des Schocks, für sie beide. Jäh war Cathrin bewusst geworden, wie sehr dieser Bursche bereits ein Mann war; überdeutlich hatte sie es fühlen können. Eine plötzliche Hitze war unter den dicken Schichten aus Leder, Wolle und Pelz zwischen ihnen aufgeschossen, und Flämmchen waren über Cathrins Rückgrat getanzt. Tief hatten Jakobs Augen blicken lassen, in ein raues und ungezügeltes Begehren hinein.
Cathrins Wangen glühten immer wieder auf, wenn sie daran zurückdachte, und sie wickelte sich tiefer in das Schultertuch, das Katya ihr geliehen hatte.
»Das bedeutet es für mich, eine Ehe einzugehen«, fuhr Katya fort. »Das Versprechen hochzuhalten, das man einander gegeben hat. Den anderen nicht fallen zu lassen, ungeachtet seiner Fehler und Schwächen. Sich immer wieder neu füreinander zu entscheiden und sich nicht beirren zu lassen, wenn sich die Gefühle verändern mit den Jahren. Kein Mensch kann einem anderen alles sein, weißt du. Wie manche Sehnsüchte im Leben ein unerfüllbarer Traum bleiben.«
Das Lächeln, das sich auf Katyas Gesicht abzeichnete, erhellte den abendlich dämmrigen Raum.
»Wähle deinen künftigen Ehemann mit Bedacht, Cathrin. Nicht jede große Liebe, jede feurige Leidenschaft taugt für eine gute Ehe. Das ist der einzige Rat, den ich dir geben kann.«
Lass es uns wenigstens offiziell machen, hatte Gerrit gedrängt. Wir gehen gleich hoch und sagen es ihnen. Es ahnen ohnehin schon alle, dass wir zusammen sind.
Worte, die in Cathrin nachhallten wie der Knall einer zugeschlagenen Tür.
»Weiß Christian davon?«, fragte sie, um sich auf andere Gedanken zu bringen. »Von Thilos anderem Leben?«
Katya schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Thilo wusste auch nicht alles über deinen Vater. Wir haben alle eine geheime Seite, die wir niemandem zeigen.«
Cathrin nickte. Nicht klüger und auch nicht weiser nach diesen langen Stunden, nur erschöpft und verschwindend klein angesichts der weitreichenden Entscheidung, die sie zu treffen hatte.
Bittend streckte sie die Hand nach ihrer Tante aus.
»Kann ich heute Nacht bei dir bleiben?«
14
Henny Petersen war schon zu Bett gegangen. Als sie unten im Haus Stimmen zu hören glaubte, zog sie doch noch einmal ihren Morgenrock über. Mit suchenden Blicken tapste sie durch das Haus, das sie nachts sanft beleuchtet hielten; Marie schlief manchmal schlecht und wanderte dann durch die Flure, um sich zu beruhigen.
Vor der Tür zu Mathilde Pohls Zimmer blieb Henny kurz stehen und horchte. Bis ihr einfiel, dass das Bett ihrer Mutter leer war, die Erinnerungsstücke an ein langes Leben teils an Jette weitergegeben, teils auf Hennys Kommode oder auf dem Dachboden verstaut.
Im Salon versanken Hennys bloße Füße im weichen Teppich. An einem der Fenster zeichnete sich die Silhouette Christians ab.
»Ist Cathrin noch immer nicht zu Hause?«, erkundigte Henny sich besorgt.
»Sie bleibt heute Nacht in Teufelsbrück. Der Stallbursche ist hergeritten, um uns Bescheid zu sagen.«
»So spät noch? Bei diesem Wetter?«, empörte sich Henny. »Da jagt man doch nicht einmal einen Hund vor die Tür. Der arme Kerl!«
»Ach komm, der Regen hat doch schon vor geraumer Zeit nachgelassen. Und der Bursche ist womöglich froh, mal ein paar Stunden in der Stadt zu verbringen. Wahrscheinlich haut er gerade irgendwo in einer Spelunke sein Trinkgeld auf den Kopf.«
»Umso schlimmer. Nur weil das feine Fräulein Tochter wieder einmal seinen Kopf durchsetzen muss.«
Christian seufzte müde, doch Henny ließ nicht locker.
»Sie kommt und geht, wie es ihr gerade passt, Christian. Die Leute reden schon, dass sie immer noch so rastlos umherfliegt wie eine Möwe über dem Fleet. Mit bald dreißig Jahren!«
»Dann lass die Leute reden. Du und ich wissen doch, dass Cathrin nichts als die Arbeit im Kopf hat.«
»Das ist es ja gerade!«
Die unrühmliche Wahrheit war, dass Henny ihre jüngste Tochter beneidete. Jette war eine bessere, eine verfeinerte Version ihrer selbst, Marie ihr Sorgenkind. Cathrin jedoch leuchtete so hell wie der Mond. Wäre Henny jemals so gewesen, hätte sie die Nächte durchgetanzt und sämtliche Männer um den Finger gewickelt. Stattdessen vergrub Cathrin sich zwischen torfummantelten Eisblöcken, Kaffeesäcken und Bilanzbüchern, ihre besten Jahre schon längst verschenkt.
»Das haben wir allein Katya zu verdanken«, fügte Henny hinzu.
»In der Tat«, entgegnete Christian ruhig. »Wir haben allen Grund, Katya dankbar zu sein. Sie war es schließlich, die unsere Tochter großgezogen hat.«
Hennys alte und nie verheilte Wunde. Nichts, aber auch gar nichts schien sie zu Cathrin beigetragen zu haben. Der Umstand, dass sie diejenige gewesen war, die Cathrin neun Monate in sich getragen, in die Welt hinausgepresst und an ihrer Brust genährt hatte, fast vergessen.
Ganz und gar Katyas Tochter war sie geworden, genauso eigenwillig und weltgewandt. Weil Henny nicht in der Lage gewesen war, mit ihrem eigenen Kind fertigzuwerden.
»Immer nimmst du Katya in Schutz!«
»Das ist nicht wahr, und das weißt du auch.«
Beide wussten sie, dass das nicht stimmte.
Ein Mal war ihm Katya wichtiger gewesen als alles andere. Das eine Mal, als Henny mit Cathrin in den Wehen lag, ein Kind, das sie nach zwei schweren Geburten eigentlich nicht hätte haben können und vor allem nicht hätte haben sollen. Der Geburtsschmerz war nichts gewesen gegen die Angst, mit jeder Wehe näher auf den Tod zuzutreiben. Umso fester hatte sie sich an ihren Schwiegervater Arno geklammert, dankbar für Thilos unerschütterliche Ruhe und die Tatkraft von Betje und Hanno, die doch selbst noch halbe Kinder gewesen waren.
Während Christian in die brennende Stadt gelaufen war, um nach Katya zu suchen.
Was aus ihm zweifellos einen Helden machte, aber auch einen Ehemann, der seine Frau in der Stunde der Not im Stich ließ. Nichts hatte er seither unversucht gelassen, um dafür Abbitte zu leisten, und doch saß der Stachel noch immer tief, so großmütig Henny auch sein wollte.
Ihre Augen liefen über.
»Entschuldige. Seit Mutter …«
Wie ein dürrer Grashalm war die greise Mathilde Pohl immer weiter verkümmert und schließlich einfach verweht, mit fast neunzig Jahren. Gerade mal einen Monat war es her, Christian war noch mit Ludger und Cathrin in Kairo gewesen. Seitdem trug Henny ein kummervolles Ziehen im Bauch mit sich herum, bei dem ihr manchmal geradezu übel wurde.