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Jakob ließ sich neben ihr nieder. »Du hast doch schon eine Menge von der Welt gesehen.«

»Eben deshalb beschäftigt mich, was ich alles noch nicht gesehen habe. Schau hier. Sankt Petersburg. Grischa hat oft davon erzählt. Wie aus einem Märchen, ein einziges Schlaraffenland. Eine Stadt der Paläste, halb dem Meer und halb dem Sumpf abgerungen. Ein Traum aus Gold und Silber und Marmor, auf den Knochen der Leibeigenen erbaut. Der Urgroßvater von Katya und Grischa hat Figuren für den Eispalast der Zarin geschnitzt, wusstest du das?«

Fast ohne Punkt und Komma redete sie; ein reißender Fluss, dem Jakob sich nur schwer entziehen konnte, aber auch gar nicht wollte. Cathrins überschäumende Begeisterung ließ sein schweres Blut leichter durch die Adern kreisen.

»Und von hier aus sind sie die Newa entlanggewandert, Grischa und Katya«, sprach Cathrin weiter. »Vom großen See von Ladoga in Karelien. Dort liegen die Wurzeln unserer Familie, deshalb will ich unbedingt einmal dorthin. Du auch?«

»Eigentlich nicht«, murmelte Jakob schuldbewusst.

Er brauchte einige Augenblicke, um die richtigen Worte zu finden; mutig kam er sich dabei vor.

»Ich richte meinen Blick lieber nach vorn als zurück«, fügte er hinzu. »In eine Vergangenheit, die doch nicht meine ist.«

Die Art, wie Cathrin ihn ansah, ihre grauen Augen dunkel und glänzend, machte ihn verlegen.

»Hast du immer noch New York fest im Blick?«, fragte sie dann.

»Natürlich«, erwiderte Jakob im Brustton der Überzeugung.

Obwohl er wusste, dass es ihm umso schwerer fallen würde, von hier fortzugehen, je länger er blieb, wartete er noch. Auf einen Anstoß, ein Zeichen, den richtigen Moment.

Ein rätselhaftes Lächeln umspielte Cathrins Mund.

»Seit ich in Ägypten war«, sagte sie, »denke ich die ganze Zeit, dass jeder einmal die Pyramiden gesehen haben sollte. Und die Sphinx.«

Unvermittelt färbten sich ihre Wangen rot.

»Entschuldige.«

»Schon gut«, erwiderte Jakob gelassen.

Natürlich wäre er gern mit nach Kairo gereist. Nicht nur der Pyramiden wegen. Noch lieber hatte er jedoch Grischas Angebot angenommen, zum ersten Mal eigenständig eine Schiffsladung Eis nach London zu bringen. Den Geschmack unwidersprochener Autorität auf der Zunge und das Gefühl von Verantwortung auf den Schultern zu haben war unvergesslich.

»Die Pyramiden bleiben ja sicher noch eine Weile stehen«, setzte er hinzu.

Lachend rollte Cathrin sich auf den Rücken, ihre Miene träumerisch weich, die zum Sommerhimmel gerichteten Augen jedoch umso klarer.

»Weißt du, was mir seither nicht mehr aus dem Kopf will? Wie viel schneller wir heute unterwegs sind als früher. Und trotzdem geht es uns noch immer nicht schnell genug. Wir sind besessen davon, mit Eisenbahnen, mit Dampfschiffen so rasch wie möglich von Punkt A nach Punkt B zu kommen. Was dabei verloren geht, ist das Vergnügen am Reisen selbst. Das Abenteuer. Ein Gefühl von Freiheit und Zeitlosigkeit. Ein echtes Erlebnis, von der Abreise bis zur Heimkehr. Deshalb verreist man doch überhaupt, oder nicht?«

In einer schnellen Bewegung drehte sie sich wieder auf den Bauch und schlug einige Seiten des Atlas um, in dem sie sich blind zurechtzufinden schien.

»Natürlich kann man auf direktem Weg von Hamburg durch das Mittelmeer nach Kairo fahren und nur zwischendurch irgendwo anlegen, weil man Kohle oder Frischwasser aufnehmen muss. Aber es ist doch ein Jammer, was man dabei alles verpasst.«

Jakob streckte sich neben ihr aus und verfolgte aufmerksam Cathrins Schilderungen der Route, die ihr Finger die Küstenlinien entlang zeichnete. Lissabon und der Affenfelsen von Gibraltar. Die Orangenplantagen von Valencia, das Casino in Monte Carlo und das mondäne Nizza. Der Vesuv und die Ruinen von Pompeji, nach Jahrhunderten unter Asche und Staub allmählich freigelegt, die Gipsabdrücke der Bewohner Zeugnis von ihrem Leben und dem Sterben in der Katastrophe. Vielleicht ein Abstecher nach Konstantinopel, wo sich über den Bosporus hinweg Orient und Okzident die Hand reichten, oder in die Heilige Stadt Jerusalem. Kairo natürlich, und Alexandria, und zum Ausklang der Reise ein Besuch bei den Parfumhändlern der weißen Stadt von Tunis und in der malerischen Kasbah von Algier.

Cathrin hatte das Talent ihres Vaters, mit Worten zu betören und Sehnsüchte zu wecken. Schulter an Schulter mit ihr im Gras, hatte Jakob Mühe, einen klaren Kopf zu bewahren.

»Das ist ja eine halbe Weltreise«, wandte er ein.

Cathrin nickte. »Genau das sollte es sein. Eine Reise durch die Weltgeschichte, von der Antike bis in die Neuzeit, von West nach Ost. Eine Entdeckungsfahrt, die alle Sinne anspricht. Und das alles, ohne den halben Erdball zu umrunden, allein nur auf dem Mittelmeer.«

»Aber wer soll sich das denn leisten können? Wer hat so viel Zeit?«

Cathrin ließ sich nicht beirren.

»Wen es zu den Pyramiden zieht, der ist kein armer Schlucker. Der kann es sich auch erlauben, sechs oder acht Wochen herumzureisen.«

Ein reizvolles Gedankenspiel, ohne Frage. Auch wenn Jakob die Fantasie Cathrins fehlte; er hatte greifbarere Dinge dabei vor Augen.

»Wo nimmst du ein Schiff dafür her?«

»Wir haben doch Schiffe«, erklärte Cathrin. »Von denen mindestens eines immer müßig vor Anker liegt, wenn es gerade kein Eis verschifft, keine Stoffe oder exotischen Waren. Thilo hat sich oft den Kopf darüber zerbrochen, weil jeder Tag, den ein Segler ruht, Geld kostet, aber keines einbringt. Das Ergebnis ist unser ausgeklügelter Fahrplan, der aber notgedrungen noch immer zu viele Lücken aufweist. Wann es nur geht, verchartern wir eines der Schiffe für kleinere Fahrten nach England oder Frankreich. Damit ist aber nicht viel zu holen, dafür ist die Marge zu gering.«

Jakob stützte den Kopf auf. »Ich weiß ja nicht, was für Reisende du dafür im Sinn hast. Aber ich glaube kaum, dass ein simpler Eisfrachter deren Vorstellung von Abenteuer entspricht.«

Cathrin lachte auf. »Nein, bestimmt nicht. Ein gewisser Komfort müsste schon gegeben sein. Wohnliche Kabinen, gutes Essen, die eine oder andere Annehmlichkeit. Eine ausgewogene Mischung aus rauer Romantik und einem Hauch von Luxus.«

Das Kinn vorgeschoben, deutete Jakob ein Kopfschütteln an.

»Das kriegen wir nicht hin, Cathrin. Wir können nicht einen Frachter kurzfristig zum Vergnügungsschiff umbauen und nach der Heimkehr genauso fix in seinen Ursprungszustand zurückversetzen. Und ein Schiff eigens dafür abzustellen, damit es die übrige Zeit nutzlos im Hafen dümpelt, ist komplett unwirtschaftlich.«

»Es muss aber gehen«, gab Cathrin störrisch zurück.

Jakob grinste. »Akzeptierst du je ein Nein?«

»Nie.« Vergnügt zog Cathrin die Nase kraus. »Zumindest nicht, bis ich alle denkbaren Möglichkeiten ausgeschöpft habe.«

Sie blätterte weiter durch den Atlas.

»Eine Möglichkeit könnte sein, ein solches Schiff ganzjährig zu nutzen, mit unterschiedlichen Reisezielen. Rings um das Mittelmeer ist es auch im Winter warm oder wenigstens mild. Bestens geeignet also, um dem nasskalten Wetter in unseren Gefilden zu entfliehen. In Norwegen hingegen sind die Sommer besonders herrlich. Alles blüht, und die Tage sind endlos lang. Man könnte durch atemberaubende Fjorde schippern, im Meer oder in einem See baden und über die wilde Hochebene der Hardangervidda wandern. Eine ganz neue und aufregende Form der Sommerfrische, besser als Warnemünde und der Watzmann zusammengenommen.«

Jakob brütete einige Herzschläge lang darüber nach.

»Ich habe keine genaue Vorstellung davon«, sagte er dann, »was ein solches Schiff kosten würde. Wie viel man für eine solche Reise verlangen könnte. Trotzdem sehe ich einfach nicht, wie sich das umsetzen ließe und dazu noch profitabel wäre. Ganz abgesehen davon, dass Ludger sicher nicht tatenlos zusehen wird, wie wir die Firma zu einer Reederei umkrempeln.«

Wir. Ein so kleines und doch so großes Wörtchen, das sich fast unbemerkt zwischen ihnen eingeschlichen hatte.

Nachdem Ludger ihr die Idee gestohlen hatte, exklusive Kaffeesorten aus Kairo zu importieren, hatte Cathrin sich vorgenommen, künftig alle ihre Geistesblitze eifersüchtig unter Verschluss zu halten, bis sie zu spruchreifen Plänen gediehen waren.