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»Jetzt weiß ich«, raunte er, »warum ihr in Hamburg immer so tut, als gehörte euch der ganze weite Ozean.«

Cathrin, das Gesicht halb unter Wasser, hob fragend die Brauen.

»Weil ihr selbst aus Wasser und Wind gemacht seid.«

Es waren die Männer, die den Sturm einfingen und die Wellen zähmten, um sich zum Herrscher über die Meere zu machen, Männer wie sein Vater. Die Frauen jedoch waren selbst wie Wasser, unberechenbar und unergründlich, eine nicht zu unterschätzende Macht voller Rätsel und Geheimnisse.

Den Arm um seine Schulter gelegt, drückte Cathrin sich aus den Wellen empor.

»Und was ist mit dir, Jakob Levgrün?«, flüsterte sie, ihr Wasseratem auf seiner Wange, während Tropfen über ihr Gesicht rannen. »Woraus bist du gemacht?«

Jakob wusste es nicht, auch mit bald dreiundzwanzig Jahren noch nicht. Er wusste nur, dass er nichts und niemanden auf dieser Welt jemals so sehr gewollt hatte wie Cathrin.

Jakob schloss die Arme um Cathrin und küsste sie. Kein zahmer oder gar scheuer Kuss war es. Fordernd und geradezu gierig fiel dieser Kuss aus, den Cathrin genauso hitzig erwiderte, die Finger in seinen Schultern vergraben, die Beine um seine Hüften geschlungen. Atemlos hielten sie nur inne, um sich in die Augen zu sehen, berauscht von der Nacht und diesen Küssen, Cathrins Lächeln weich wie das Licht einer Mitternachtssonne.

Man konnte eine Frau wie Cathrin nicht festhalten, genauso wenig wie das Wasser; auch das gehörte zu den Dingen, die Jakob wusste. Und wie das Wasser selbst glitt sie aus seinen Armen und tauchte ab, um dann mit kräftigen Schlägen ans Ufer zu schwimmen, ein Silberstreif im Tintenschwarz von Nacht und Fluss.

Mit ausgebreiteten Armen streckte Jakob sich rücklings auf dem Wasser aus und überließ sich dem Schaukeln der Wellen. Noch nie hatte er sich so lebendig gefühlt, so stark, und er lachte sein Glück in den Sternenhimmel hinauf.

Traumverloren blinzelte Cathrin durch das geöffnete Fenster nach draußen. Die ersten Vogelstimmen regten sich zaghaft, in dieser weißen Stunde zwischen dem Ausklang der Nacht und Sonnenaufgang.

Immer noch saß sie in ein Handtuch gewickelt auf dem Bett, die Arme um ihre Knie geschlungen. Immer noch schmeckte sie Jakobs Kuss in ihrem Mund wie Ingwer und Kardamom, schien noch sein Duft auf ihrer Haut zu haften, ein kräftiger Ackerboden im Gewitterregen.

Als wäre sie durch einen Ozean geschwommen, um den Fuß auf einen anderen Kontinent zu setzen, so hatte es sich mit Jakob angefühlt. Die Grate seiner Schultern, seine kräftige Brust und der geriffelte Bauch eine aufregend neue Landschaft, die ihr gleichwohl vertraut vorkam, lange gründlich auf den Seiten eines Atlas studiert.

Bedenkzeit hatte sie von Gerrit verlangt, und Bedenkzeit hatte sie bekommen, diesen einen Sommer. Schuldig hätte sie sich fühlen müssen, weil sie jetzt Jakob geküsst hatte. Küsse, die sie leicht als Laune des Augenblicks abtun könnte, als Rausch einer Sommernacht. Eine kleine Schwäche, der sie nachgegeben hatte, nachdem ihr junger Cousin sie schon so lange anhimmelte, oder eine Feuerprobe, bevor sie Gerrit die Ehe versprach.

Cathrin wusste es besser. Vor allem wusste sie, dass nur die Anwesenheit von Katya und Grischa im Haus sie davon abhielt, an Jakobs Tür zu klopfen und sich mehr von diesen Küssen zu holen.

Für die Vögel war es Zeit auszufliegen. Einer nach dem anderen zog als Schattenriss über den blassen Himmel, und jeder ihrer Flügelschläge fand sein Echo tief in Cathrin. Mit dem ersten Morgenrot breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus.

Ein paar Stunden später traf im fernen Berlin die Kriegserklärung des französischen Kaiserreichs an Preußen ein. Und bis zum Abend desselben Tages befand sich ganz Deutschland offiziell im Kriegszustand.

16

Im Nachthemd und die roten Locken zum Zopf geflochten, lauschte Betje am offenen Küchenfenster in die Sommernacht hinaus, eine Tasse Tee in der Hand.

Unwirklich still war es draußen, wo doch sonst auch zu später Stunde noch irgendjemand in den Gängen krakeelte, Eheleute stritten und den Blechtopf gegen die Wand schmetterten, ein Kind aus voller Lunge kreischte oder ein Betrunkener auf dem Heimweg grölte.

Vielleicht kam es ihr aber nur so vor, weil gerade alles ganz und gar unwirklich war.

Natürlich hatte man auch in Hamburg mitbekommen, dass in Spanien die Königin gestürzt worden war. Recht so, hatte man hier befunden, schließlich hatte man dem Adel und jedweder Krone immer schon misstrauisch gegenübergestanden. Blaublüter waren noch nie eine annehmbare Partie für die Töchter und Söhne der Hansestadt gewesen, und bis vor zehn Jahren ließ man sie noch nicht einmal ein Haus oder Grundstück in Hamburg erwerben. Für Faulpelze, die dem dekadenten Müßiggang frönten, hatte man hier immer noch nichts übrig. Hier bedeuteten Geld und Status nur etwas, wenn sie auf harter Arbeit und findigen Geschäften beruhten, und jede nachkommende Generation fühlte sich verpflichtet, diese Tradition fortzusetzen.

Deshalb hatten die Hamburger auch mit hochgezogenen Brauen mitverfolgt, wie sich der Kaiser von Frankreich mit Kanzler Bismarck und dessen preußischen König darum zankte, wer nun auf den spanischen Thron folgen sollte. Den Kandidaten der Hohenzollern wollten die Franzosen keinesfalls akzeptieren. Gar niemanden von Bismarcks Gnaden, damit das gefräßige Preußen nicht auch noch Macht auf der Iberischen Halbinsel ausübte und Frankreich so in die Zange nahm.

Tüddelkram, hatten die Hamburger hinter ihren Tabakspfeifen und Zigarren, den Bierkrügen und Schnapsgläsern gebrummt. Dumm Tüch, befanden auch die Hausfrauen und Mamsells, während sie im Feinkostladen Gänseleberpastete und Räucherlachs, belgische Pralinen und Reintjes’ feines Johannisbeergelee einkauften.

Niemand hier konnte verstehen, warum man sich überhaupt darum scherte, wer anderswo auf einem güldenen Thron saß. Geradezu lächerlich war es, wie die schnöseligen Franzosen jedes diplomatische Wort auf die Goldwaage legten und schließlich aus gekränkter Ehre und Eitelkeit den Fehdehandschuh hinwarfen, den Bismarck mit grimmiger Entschlossenheit allzu schnell aufhob.

Hätten sie sich allesamt mal lieber ein Beispiel an Hamburg genommen, das immer schon sein eigenes Süppchen gekocht hatte und stets gut damit gefahren war. Die gute Hamburger Aalsuppe, in die allens rinkümmt, herzhaft und unverfälscht und bodenständig wie die Hamburger Seele selbst.

Doch die Zeiten hatten sich geändert. Seit zwei Jahren war Hamburg keine Insel mehr, sondern Teil des Norddeutschen Bundes. Wie sich alle anderen Hansestädte, Königreiche, Herzogtümer und Fürstenländer unter der schwarz-weiß-roten Flagge und preußischer Führung versammelt hatten, von der Nordsee und der Ostsee bis an den Main, vom Rhein bis an die Oder.

Nur zähneknirschend war Hamburg beigetreten und nur, um sich mit dem ewig säbelrasselnden Preußen gut zu stellen. Mit hanseatischer Sturheit zwar auf den alten Handelsprivilegien beharrend, aber dafür der stets so hochgehaltenen Freiheit beraubt.

Wat mutt, dat mutt.

Irgendwo auf den Dächern krächzte eine Krähe, missgelaunt und angriffslustig. Zu dieser Stunde der Nacht ein drohend unheilvoller Ruf, bei dem sich Betjes Magen zusammenzog.

Im Pyjama erschien Hanno in der Tür. Er musste nicht erst fragen, warum Betje mitten in der Nacht in der Küche saß, und setzte sich zu ihr an den Tisch.

»Sie werden Gerrit schon nicht einziehen«, sagte Hanno nach einer Weile.

Darum kreisten ihre Gedanken in diesen Tagen. Wie viele Hamburger Familien gerade beunruhigt waren, wenn sie an ihre Söhne, ihre Brüder und Ehemänner dachten, deswegen genauso schlecht schliefen wie Betje und Hanno.

»Sein Wehrdienst ist längst abgeleistet«, fügte Hanno in aller Zuversicht hinzu.

Betjes Daumen fuhr über das Blumenmuster der Tasse.

»Doktor Spreckelsen war gestern im Laden, um sich zu verabschieden und sich noch mit ein paar Delikatessen für die Front einzudecken. Er zählt genauso zur Reserve wie Gerrit.«