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Nach der Schneeschmelze waren die kleinen Weiher hier oben so ausgedehnt, dass sie fast ineinanderflossen. Noch in diesem Jahr würden sie alle zu einem einzigen See aufgestaut, hatte Silja erzählt, um den Wasserdurst der stetig wachsenden Stadt zu stillen.

Vierzig Jahre war es her, dass Katya hier auf einem zugefrorenen Weiher gestanden hatte. Kein Kind mehr, aber auch noch nicht ganz ein junges Mädchen, als sie Johann Silberberg anvertraute, dass sie das Schwingen des Eises unter ihren Stiefelsohlen fühlen konnte. Wie ein gesund schlagendes Herz, biegsam und gleichmäßig und stark. Mit seinem Wissen über das Eis hatte Johann Silberberg die Welt zu ihr gebracht. Über den Karten von Land und Meer, die er vor ihr ausbreitete, hatten Katyas gerade aufkeimende Träume klare Konturen bekommen, eine greifbare Form.

Tief sog Katya die torfsaure Luft ein, den harschen Hauch von frischem Schnee. Liegen bleiben würde er nicht mehr. War der Jahreslauf einmal so weit vorangeschritten, gab es kein Zurück in die traumverlorene Stille des Winters, noch nicht einmal so dicht am Polarkreis. Umso hartnäckiger schienen sich die letzten Schneereste in den Schrunden der Berghänge festzuklammern. Nicht mehr als ein kleiner Aufschub würde ihnen gewährt sein, bevor die kräftige Sonne des Frühlings auch sie auflöste.

Auf einer Welt, in der es dich nicht gibt, möchte auch ich nicht sein, hatte Thilo damals gesagt, als er die Brandwunden und Schrammen versorgte, die sie aus dem Feuer mitgebracht hatte, während hinter ihnen Hamburg noch immer lichterloh brannte.

Heute, ein Vierteljahrhundert später, verstand sie ihn. Einer Welt überdrüssig, die im Lauf eines Menschenlebens so viel an Segen schenkte und im Gegenzug so vieles wieder nahm.

Katyas Blick wanderte nach Norden. Einst das Ziel all ihrer Sehnsüchte, wusste sie jetzt, dass sie den nördlichsten Norden nie erreichen würde. Vielleicht würde es niemandem sonst gelingen, nicht zu ihren Lebzeiten. Je mehr man über den Nordpol mutmaßte, forschte und verstand, umso mehr entzog er sich des Menschen Verstand und Willen. Ein mythischer Ort, der nur noch größere Begehrlichkeiten weckte.

Und doch gab es ihn. Eine Eiskruste, die die Welt im Gleichgewicht hielt. Die Achse, um die sich der Erdball drehte. Der Fixpunkt, nach dem sich alles irdische Maß ausrichtete.

Nirgendwo auf Erden konnte man der Ewigkeit so nahe sein. Vielleicht war es das, was sie alle wie magnetisch dort hinzog. Das Wissen, dass der Nordpol ein Ort jenseits der Zeit war.

Deshalb war Katya nach Tromsø gekommen. Um die Zeit, die noch blieb, mit Silja zu verbringen, die zunehmend fragil wurde; selbst ihr Geruch nach Sahne und Wacholder war gealtert, harzig geradezu.

Unaufhaltsam rann ihnen das Leben durch die Finger wie Schmelzwasser, umso schneller, je älter sie wurden. Am Ende waren sie alle nicht mehr als Schneeflocken, die der Wind verwehte und die mit der Zeit einfach vergingen.

Katya verkroch sich tiefer in ihr Schultertuch und richtete sich nach Süden aus. Gen Hamburg, weit, weit hinter den schroffen Berghängen, verschwiegenen Fjorden und der rauen See.

Sie fragte sich, ob Grischa es genauso empfand. Ob er, der große Träumer, der Glücksjäger und Abenteurer, der immer wusste, woher der Wind wehte, noch die Kraft hatte, von einem neuen Morgen zu träumen.

5

Ein süßer Duft wehte durch das geöffnete Fenster herein, betäubend geradezu, sogar noch hier oben. Grischa brauchte einige Herzschläge, um ihn mit den blühenden Linden unten in Verbindung zu bringen, die ihn daran erinnerten, dass schon tiefer Juli war.

Sein Zeitempfinden war ausgeufert; ein träges Vorbeifließen der Tage, dem er unbeteiligt zusah.

Wie aus weiter Ferne sickerten Räderknirschen und Hufklappern herein, ein schwaches Echo der Passanten und Flaneure. Umso näher klangen die Hörner der Dampfschiffe jenseits der Baumreihen, der dichte Verkehr auf der Elbe ein Gradmesser für den schwunghaften Handel der Stadt.

Keineswegs phönixgleich war Hamburg aus seiner Asche und den beiden Sturmfluten kurz hintereinander auferstanden. Auch fünfundzwanzig Jahre danach waren Brandnarben sichtbar, glich die Stadt an vielen Ecken einer einzigen Baustelle. Die fortgespülte Trostbrücke war noch immer nicht repariert, und für das neue Rathaus gab es zwar Entwürfe, doch so recht hatte man sich noch zu keiner Entscheidung durchgerungen.

Vor allem fehlte es an Geld. Die einhundertvierzig Millionen Hamburger Mark an Sachwerten, die damals in Feuer und Rauch aufgegangen waren, hatten eine Schuldenlast auf die Stadt gewälzt, die noch lange nicht abgetragen war.

Den Spenden wohlhabender Bürger war es zu verdanken, dass es zumindest mit dem Neubau von Sankt Nikolai vorangegangen war. Siebzehn Jahre hatte es gedauert, den Koloss aus Stein und Marmor zu errichten, von fast katholisch anmutendem Gepränge mit seinen Skulpturen und filigranen Steinmetzarbeiten, den Wasserspeiern und prächtigen Glasfenstern. Nur der Turm fehlte noch, der höchste der Welt sollte er einmal werden und sogar das Straßburger Münster in den Schatten stellen.

Ein Sinnbild für die reiche Zukunft, nach der Hamburg sich reckte und sichtbar für alle Welt bekundete, dass es nicht unterzukriegen war.

Leichte Schritte traten ins Zimmer.

»Brauchst du noch etwas, Papa?«

Besorgnis stand auf Auroras Gesicht mit den Rehaugen. Grischa zog seine Tochter an sich und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.

»Fahrt ruhig. William wartet doch schon sehnsüchtig auf euch.«

Lärmend kamen die beiden Kinder hereingesprungen. In einem Wirbel aus Rüschen und Schleifen und den dunklen Locken ihrer Mutter schwang Grischa die sechsjährige Lucy herum, dass sie entzückt kiekste, bevor er den kleinen Will hochstemmte, das Haar wie gesponnenes Karamell und mit den lichtblauen Augen seines englischen Vaters.

»Was bist du für ein schwerer Brocken«, rief Grischa mit gespieltem Schnaufen in das Lachen seines Enkels hinein. »Réka hat euch ja regelrecht gemästet!«

Nur widerwillig ließ der Junge sich absetzen und von seiner Mutter die Spuren von Pflaumenmus und Puderzucker abwischen, die Rékas Buchteln in seinem Gesicht hinterlassen hatten.

Tristan stand in der Tür, ein Schmunzeln auf dem soliden Gesicht, einen versonnenen Glanz in den Augen. Nachdem er jahrelang damit beschäftigt gewesen war, mit Grischas Unterstützung einen Kaffeehandel aufzubauen, konnte er es jetzt kaum mehr abwarten, seine eigene Familie zu gründen. Nächstes Frühjahr wollte er seine Judith vor den Altar führen, mit fünfunddreißig Jahren und schon dem ersten Aufglimmen von Grau an den Schläfen.

Herzhaft umarmten sich die beiden Männer, Grischa eine dunkle Eiche, Tristan wie aus Kiefernholz geschnitzt. Vater und Sohn, obwohl sie nicht einen einzigen Tropfen Blut gemeinsam hatten.

»Pass auf dich auf«, murmelte Tristan.

»Bring deine Schwester gut nach Hause«, erwiderte Grischa, »und grüßt eure Mutter von mir. Judith natürlich auch.«

An der Eingangstür klopfte es, der Fahrer der Mietkutsche. Aufbruchsstimmung brandete in der Wohnung auf und schwappte durch den Flur. In plötzlicher Hektik wurde nach einem verloren gegangenen Handschuh gesucht, nach einem vermissten Stofftier, während Réka in dem schwerfälligen Akzent ihrer ungarischen Heimat Segenswünsche austeilte und den Reisenden eine überreichliche Wegzehrung aufnötigte, als stünde eine Hungersnot bevor.

Die Tür fiel zu, und Stille breitete sich aus. Rékas Schniefen, ihr geräuschvolles Schnäuzen ins Taschentuch ebbten ab; nur noch das Klappern der Töpfe und Teller beim Abspülen war gedämpft am anderen Ende der Wohnung zu hören.

Vom Fenster aus beobachtete Grischa, wie der Wagen anrollte, um Tristan, Aurora und die beiden Kleinen aus dem grünen Herzen Altonas zum Hafen zu bringen. Nach London würde es gehen, wo Aurora als Mrs Fernsby inzwischen zu Hause war, Tristan zumindest mit einem Bein. Ein Katzensprung in dieser Ära von Kohle und Dampf, und doch nicht wirklich in der Nähe.