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Die plötzliche Leere lastete schwer in Grischas Rücken.

Dass er einmal an den Punkt kommen würde, an dem er Christian um den Halt beneidete, den Henny und die drei Töchter ihm gaben, hätte Grischa nie für möglich gehalten.

Seine einzige Reue jedoch galt Thilo. Alles wäre anders gekommen, hätte er Thilo lieben können, wie dieser es verdiente. Grischas größte Sünde, die nicht zu vergeben, niemals mehr wiedergutzumachen war.

Grischa presste die Stirn mit aller Kraft gegen die Kante des Fensterrahmens, der körperliche Schmerz auf wohltuende Weise betäubend.

In seinem eigenen Bett hätte Thilo sterben sollen. In hohem Alter und in Frieden, mit einer vertrauten Hand, die seine hielt. Nicht in der Gosse und allein, nicht so. Als ob Zacharias zurückgekehrt wäre. Ein Untoter, vom Grund der Elbe heraufgestiegen, um Rache zu nehmen, Jahre später. Eine Last, an der Thilo schwer getragen hatte, obwohl es Grischas Bürde gewesen war.

Mich hätte es treffen sollen, ging es ihm nicht zum ersten Mal durch den Kopf. Ich sollte jetzt an Thilos Stelle im Grab liegen, sechs Fuß unter der Erde.

Eines jener Geheimnisse, die sie alle voreinander hegten. Thilo. Grischa selbst. Sogar Katya und Christian, dafür brauchte man kein Hellseher zu sein. Denn irgendwann begann jedes noch so gut gehütete Geheimnis zu gären und zu modern wie ein totes Tier unter Bodendielen.

Auch über Thilos Leichnam hatten sie den Mantel des Schweigens ausgebreitet. Um die unangenehmen Fragen im Keim zu ersticken, was ein angesehener Bürger mitten in der Nacht in einer solch verrufenen Gegend zu suchen hatte. Damit nicht nur Thilos Ruf posthum keinen Schaden nahm und der Katyas als seiner Ehefrau, sondern auch der der Firma. Ein Geheimnis mehr, das sich von nun an hinter der makellosen Fassade von Petersen & Voronin verbarg.

Mit einem tiefen Atemzug hob Grischa den Kopf und spürte dem brennenden Pochen nach, das der Fensterrahmen auf seiner Stirn hinterlassen hatte. Sein Blick wanderte auf die Stadt hinaus, die sich zu seiner Linken erstreckte. Von hier oben betrachtet glich Hamburg einem offenen Wasser, die Dächer eine endlose Dünung bis zum verblauenden Horizont und die Kirchtürme wie Baken, die Orientierung gaben.

Genau wie Hamburg selbst hatten sie das Unternehmen aus den Brandruinen wieder hochgezogen und durch unruhige Jahre geführt, die Flammen jener Maitage im Rückblick wie ein Vorzeichen für die Flächenbrände, die sich bald schon allerorts entzündeten.

Albrecht kam ihm in den Sinn, fast drei Jahrzehnte war es her. Mit seinen Zimmermannsmuskeln und dem breiten Kreuz, dem Grübchenlächeln und Küssen, die vom Pfeifentabak pfeffrig schmeckten.

Von einer Revolution nach französischem Vorbild hatte Albrecht seinerzeit geträumt, und eine solche Revolution hatte er bekommen, anno 1848, und in den Folgejahren ein halbes Dutzend Kriege noch dazu. Ein Aufbegehren gegen die bestehende Ordnung, das um den ganzen Globus züngelte, mal ein Schrei nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, mal machtgierige Rechthaberei. In einem kriegslüsternen Nationalstolz, der sich wie ein Virus immer weiter ausbreitete.

Unlängst sogar vor den Toren Hamburgs, als sich Deutsche und Dänen, von jeher eng verschwisterte Nachbarn, urplötzlich als Feinde gegenübergestanden hatten.

Grenzen wurden schärfer gezogen. Andere, die seit Jahrzehnten Bestand gehabt hatten, bröckelten oder wurden einfach weggefegt. Nicht erst, seit Charles Darwin die Schöpfungslehre ausradiert und der Menschheit einen wenig schmeichelhaften Spiegel vorgehalten hatte.

Die Welt war im Umbruch.

6

Jakob Levgrün setzte seinen Seesack ab und wischte sich über die Stirn. Die Gasse, die er von den Holzkähnen am Ufer heraufgestapft war, an aneinandergequetschten Backsteinhäuschen vorbei, war steil gewesen. Einen anständigen Eindruck hatte er in seiner guten Jacke machen wollen, jetzt erwies sie sich als viel zu warm; Hamburg hatte er sich immer kühl und sturmumtost vorgestellt.

Im Kontor am Dovenfleet hatte man ihm höflich, aber in geschäftiger Eile mitgeteilt, Herr Voronin sei heute nicht im Haus, er könne gern eine Nachricht hinterlassen. Lange hatte Jakob auf das Stück Papier vor sich gestarrt, im Stimmengewirr und Federkratzen, dem dumpfen Knallen von Stempeln und dem Klackern der Rechenschieber. Worte hatte er keine gefunden.

Schon halb wieder zur Tür hinaus, war sein Blick an den aufgereihten Adressbüchern von London, Lübeck, Berlin und Hamburg hängen geblieben, und mit einer ungeduldigen Geste hatte man ihm erlaubt, einen Blick hineinzuwerfen.

Aus der Stadt wäre auch eine Eisenbahn nach Altona gegangen, aber die Fahrt von Lüneburg hatte schon genug gekostet, Jakob würde später jeden Pfennig brauchen. Also war er zu Fuß aufgebrochen, am Wasser entlang, und hatte sich Etappe für Etappe weiter nach der Adresse durchgefragt. Und nun stand er hier, auf der baumgesäumten Prachtstraße der Palmaille.

Solche feinen Bürgerhäuser gab es auch in Lüneburg, nur waren diese hier um einiges feudaler; selbst die Salzbarone zu Hause wären vor Neid erblasst. Ganz und gar fehl am Platz kam Jakob sich vor, zwischen den Damen, die mit ihren Reifröcken und Sonnenschirmen zarten Schmetterlingen glichen, die Herren mit ihren Gehröcken und Hüten eleganten Kranichen.

Am liebsten hätte er kehrtgemacht. Er hatte nur keine Wahl.

»Herr Voronin ist ein viel beschäftigter Mann«, wies ihn die Mamsell an der Tür ab, die die scharfe Autorität eines Bussards vor sich hertrug, ihre Aussprache klebrig und zäh wie Hefeteig.

»Bitte, ich muss Herrn Voronin wirklich sprechen«, beharrte Jakob. »Es ist wichtig.«

»Réka«, ertönte eine Männerstimme im Hintergrund und kam dann näher. »Wer ist es denn?«

Stumm musterten sich Grischa und Jakob, im gedämpften Licht des Korridors ein zeitversetztes Spiegelbild des anderen. Da waren die dunklen Farben, die Jakob von Kindesbeinen an zum Sonderling gemacht hatten, die kräftigen Züge, in die er gerade erst hineinwuchs.

Lange Erklärungen waren unnötig; was sie miteinander verband, stand ihnen ins Gesicht geschrieben.

»Jakob also«, sagte Grischa, nachdem Réka den Kaffee auf dem niedrigen Tisch abgestellt hatte.

Die Schultern zum Schutz vor Grischas forschendem Blick hochgezogen, hielt Jakob sich steif auf der Kante des Sessels. Das Zuhause von Grischa Voronin hatte er sich anders vorgestellt. Nicht derart licht und geradezu spartanisch eingerichtet, aber mit edlen Hölzern ausgestattet, kostbare Orientteppiche auf dem Boden. Er weigerte sich, sich hier allzu wohl zu fühlen.

»Lenes Sohn«, ergänzte Jakob, herausfordernd und fast angriffslustig.

Grischas Hand, die sich nach dem Service ausstreckte, verharrte in der Luft.

»Lene.« Weich kam es aus seinem Mund, mit einem andächtigen Nachklang. »Dann bist du jetzt … wie alt? Neunzehn?«

»Zwanzig.«

Die drei Monate, die noch fehlten, schlug Jakob einfach drauf, misstrauisch, ob Grischa Voronin nur gut geschätzt hatte oder sich tatsächlich noch genauer erinnerte.

Ein kleines Lächeln im Mundwinkel, rührte Grischa Zucker in seinen Kaffee, den er genau so trank, wie Jakobs Mutter es immer erzählt hatte, stark und schwarz wie Teer, zu gleichen Teilen süß und bitter wie das Leben.

»Wie geht es Lene?«

»Sie ist vergangenen Winter gestorben. Die Lunge, nach Jahren in der Spinnerei.«

Mit genüsslicher Befriedigung registrierte Jakob den Schatten, der sich auf Grischas Gesicht legte.

»Das tut mir leid.«

»Muss es nicht«, gab Jakob grimmig zurück. »Sie haben sich ja sonst auch nicht um sie gekümmert.«

Erstaunen zog über Grischas Gesicht.

»Lene hat mich damals verlassen, nicht ich sie. Im Guten, aber endgültig. Sie hat mir nicht gesagt, wo sie hingeht, und auch nicht, dass sie ein Kind von mir erwartet.«

»Natürlich nicht. Oder hätten Sie sie etwa geheiratet?«